Einblicke

IKIGAI – was das Leben lebenswert macht

Japanische Philosophie als psychotherapeutische Begleithilfe für Menschen, die auf Ihrem Selbstfindungsweg Begleitung und Unterstützung suchen.

Autor: Joachim Armbrust

Artikel bei raum & zeit

Es geht beim japanischen IKIGAI um nicht weniger, als den Sinn des Lebens – und da gibt es viel zuentdecken. Die Suche ist eine Reise zu dir selbst, auf der du viel Neues über das Leben, - über dein Leben -, lernen kannst. IKIGAI ist ein Weg, der darauf abzielt, das persönliche Glück und die innere Zufriedenheit, sowie die unterstützende Resonanzfähigkeit mit sich selbst, durch die Identifikation mit dem eigenen Tun, - das sich aus den angelegten, persönlichen Schätzen ergibt, - und dem Verfolgen von Leidenschaften und Zielen, zu fördern. Dabeistehen nicht die Ergebnisorientierung, der eigene Anspruch an sich selbst oder der Vergleich mitanderen im Vordergrund, sondern die schöpferisch gestaltete Gegenwärtigkeit und das damit verbundene erfahrbare Tun.
„Finde dein persönliches IKIGAI, deinen inneren Leitfaden, der dich führt und an dem du deine Erlebnisse im Alltag messen und zur ordnenden und befriedenden Erfahrung machen kannst. “IKIGAI erzeugt das Gefühl, dass wir uns in der Zukunft bewegen, dass wir dort schon sind, was wir in der Gegenwärtigkeit werden wollen und von der Zukunft her zur Verwirklichung des noch Ungelebten gerufen werden. Das kann sich sehr sinnstiftend und herzöffnend auf uns auswirken und dazubeitragen, dass wir uns auf jeden gelebten Moment freuen, weil er etwas noch Ungelebtes Gestaltgewinnen lässt. Mit der gelebten Erfüllung einer erst nur vorausgedachten Gestalt fließt uns aus der Zukunft das Gefühl von schöpferischer Wirksamkeit, von Glück und Freude in der Gegenwärtigkeit zu. Was können wir uns über die japanischen Wortstämme des Wortes an dazu verwandter Bedeutungableiten?
„Iki“ steht für Leben, Geburt, Alltag
„Kai“ steht für Wert, wertvoll
Ikigai nutzen Japaner/innen, wenn sie zum Ausdruck bringen wollen, dass etwas „lebenswert“ ist oder etwas das Leben „wertvoll“ macht. Dies kann viel mehr als unser Berufsleben sein. Es kann etwas ganz Persönliches sein. Es kann all das sein, was du für wertvoll hältst. Ikigai wird lebendig, wenn wir es in seiner Offenheit und in seiner Weite begreifen. IKIGAI beinhaltet das ganze Spektrum. Die Komplexität von IKIGAI spiegelt die gesamte Komplexität des Lebens selbst wider. Das gilt auch für unseren je eigenen Lebenssinn, den wir uns kreieren. Ikigai ist individuell, es drückt sich darin nichts feststehendes, sondern ein Tätigsein aus. IKIGAI können wir in allen Lebensmomenten erfahren, bei einem Sonnenaufgang, bei einer freundlichen Begegnung, wenn wir uns durch einen anderen Menschen in einem ureigenen Wesenszug erkannt fühlen oder auch, wenn uns etwas plötzlich glückt, an dem wir lange gefeilt hatten. IKIGAI kann uns im Alltag begleiten als eine kontinuierlich immer wieder neu erlebte Qualität, wenn wir es schon länger einladen oder es kann uns überraschen, wenn wir am wenigsten damit rechnen. Der Qualität von IKIGAI können wir also in Großen wie in kleinen Dingen des Lebens begegnen. Das macht IKIGAI so vielfältig wie das Leben selbst.
Die japanische IKIGAI-Philosophie lädt uns ein, in unserem Alltag Bewusstsein für unsere Werte und unseren persönlichen Lebenssinn zu entdecken und zu entwickeln. Es ist etwas sehr Persönliches. Wenn wir es auf unserer Lebensreise entdecken und entwickeln, entsteht so eine Art innerer Kompass, der uns Orientierung, Halt, Sicherheit, aber auch ein Ermahnen, Aufmerksam-machen und Geführt-werden mit auf den Weg gibt. IKIGAI führt uns fernab von Schablonen und vorgefertigten Handlungshülsen, die standardisiert und gängig sind. IKIGAI ist eine vorausgeworfene Verheißung, die besagt, dass da draußen in der Gegenwärtigkeit etwas auf uns wartet, das uns glücklich macht. Neben einer Bereitschaft zur Offenheit und Gelassenheit, braucht es vor allen Dingen Intuition, die sich mit wachsender Erfahrung immer mehr ausbildet und ausdifferenziert. Wenn wir uns für IKIGAI öffnen und wach dafür sind, dann dürfen wir einfach im wachen, aufmerksamen Tätigsein abwarten, denn dann begegnen wir unserem IKIGAI wie von selbst und unser IKIGAI findet uns.
IKIGAI lebt vom Respekt und der Achtung gegenüber den vielfältigen, lebendigen Daseinsformen unseres Lebens, aber auch materielle Wirklichkeiten, wie zum Beispiel Gegenstände, sind eingeschlossen. Für IKIGAI dürfen wir die getaktete, ergebnisorientierte Zeit verlassen und uns in eine Raumqualität von Zeitlosigkeit, Stille und Hellhörigkeit begeben. Unser werdendes IKIGAI lebt von unserer Offenheit und unserer wachen, sensiblen Aufmerksamkeit für die scheinbar kleinen Dinge im Leben. Wir werden nach und nach spürbar erfahren, dass es genau diese kleinen Dinge sind, die unserem Leben fast sinnlich-erfahrbar Erfüllung schenken. Unser IKIGAI lebt von unserer Wahrnehmungsbereitschaft dafür, dass jeder Moment kostbar und vergänglich ist. Wir können ihn nutzen oder vorüberziehen lassen. Er wird sich so jedenfalls nicht wieder wiederholen. IKIGAI hat auch etwas mit Vertrauen ins Leben zu tun. Darauf vertrauen, dass das Leben, das uns sogemeint hat, wie wir sind, uns spüren lässt, dass Wege beim intuitiven Gehen entstehen. IKIGAI wäre unvollständig ohne die Berücksichtigung unserer Wurzeln. Wurzeln erinnern uns an unsere Werte; vertraute und eingeübte, bewusste Gewohnheiten geben uns Stabilität und erinnern uns, was über die Ahnenreihen hinweg an Tragfähigem entstanden ist und uns immer noch trägt. Ein lebendiges und tragendes IKIGAI gestaltet immer wieder neu die Erfahrung von Harmonie und persönlichem Frieden, bis dahin, dass diese Qualitäten uns in Kontinuität begleiten. Oft stolpern Menschen in die Erfahrung von IKIGAI mehr hinein, als dass sie es zielgerichtet gesucht hätten. Es ist vielmehr die bewusste oder unbewusste Beschäftigung mit Themen, die unsere Wahrnehmungsbereitschaft in eine bestimmte Richtung erhöht und sensibilisiert und uns dadurch Türen der Erfahrung öffnet.
Mieko Kamiya formulierte sieben Dimensionen, die unser IKIGAI fördern: Lebenszufriedenheit, Wachstum und Veränderung, die Vorstellung einer hinreichend guten Zukunft, sowie Resonanz, im Sinne von, mit jemandem in Einklang sein, mit jemandem auf einer Welle schwingen, des weiteren Freiheit, Selbstverwirklichung, Bedeutung und Wert. Eine ganz wichtige Qualität bei der Verfolgungdieser Dimensionen ist dabei Gelassenheit. Es geht nicht um Perfekt sein oder um Konkurrenz, sondern es geht um kleine Schritte der erfüllenden Annäherung an etwas. Aus einem Objekt ein Subjekt machen, einen Draht herstellen, der resoniert.
Für viele Menschen ist das kreative Schaffen die Quelle ihres IKIGAs. Wieder andere Menschenfinden ihr IKIGAI in der Bewegung, durch die Wirkung, die diese Bewegung auf ihren Geist und ihrseelisches Befinden hat. Andere beim Laufen, weil sie es lieben, in einen meditativen Zustand zufallen, in dem sich eins mit der Natur, mit sich als Läufer und mit dem laufen selbst fühlen. Das entspannt sie und lässt sie ihren Alltag vergessen.

Helfen

Ich selbst habe vor einigen Jahren einen Verein mitgegründet: „Helfen hilft“. Die Idee dahinter war, dass wenn Menschen anderen Menschen dabei helfen, zu leben, dass sie das dann selbst stabilisiert, weil sie dadurch wissen, warum sie morgens aufstehen. Sie werden gebraucht. Dass wir uns selbstbesser fühlen, wenn wir anderen helfen, ist mittlerweile sogar wissenschaftlich bewiesen.

Das Leben annehmen, wie es ist

Das japanische Wort „Arugamama“ steht für: „dass die Dinge so sind, wie sie sind“. Es ist ein philosophisches Prinzip, nicht gegen die Umstände anzukämpfen, sondern sie zu akzeptieren. Ich konzentriere mich ganz auf die eine Sache, auf den einzigartigen Moment- und akzeptiere, die Dinge, so wie sie sind.

Malen

Ich selbst habe viele Jahre gemalt. Vor Beginn des Malens hatte ich in der Regel eine Idee davon, was ich malen will. Meistens machte mir irgendein spontaner Strich oder eine Farbe im wahrsten Sinne des Wortes einen Strich durch die Rechnung. Die ins Bild hinein gewordene Gestalt konnte nicht zurückgenommen werden, sie schuf eine neue Wirklichkeit, sie musste und wollte integriert werden. Meistens kam am Ende des gemalten Bildes etwas ins Bild hinein, was es erst ermöglichte, mit ihm ganz erfüllt und eins zu werden und den Ausdruck des Bildes als Selbstausdruck voll zu bejahen.

Natur – ebenfalls ein Weg mit seinem IKIGAI in Kontakt zu kommen

Ich lebe in einem alten Schulhaus am Rande des Dorfes und stehe im Grunde schon beim Verlassendes Hauses unmittelbar in der Natur. Tägliche Spaziergänge, mit oder ohne Hund, abendliches Gassi mit dem Hund gehören in meinen Tagesrhythmus. Ich vergesse dabei die Zeit, lasse meinen Gedanken und Gefühlen Raum und ich komme in eine Qualität von Resonanzfähigkeit und Hellhörigkeit, auch für das, was außerhalb von mir, also in der Natur ist. Ich höre den Eisvogel singen, den Hirsch bellen, ich sehe eine Blindschleiche sich schlängeln, ich höre die Blätter im Wind rascheln oder ein Waldrauschen. Diese feinen Wahrnehmungen helfen mir in einen Raum von wacher, aufmerksamer Zeitlosigkeit zu fallen. Diese entschleunigte Zeit, erhöht meine Wahrnehmungsfähigkeit, mein Spürbewusstsein und ich fühle mich intensiv und lebendig.

Respekt

Die feinstofflichere Art wahrzunehmen, überträgt sich natürlich auch auf Beziehungen. Je mehr wir uns auf unsere Mitmenschen einlassen, desto mehr und tiefer nehmen wir sie wahr und es entsteht eine neue, miteinander schwingende Art des in-Verbindung-tretens. Diese neue Art des respektvollen und hellhörigen Miteinanders schafft Verbundenheit und damit Verantwortung und Fürsorge füreinander. Wir laden uns gegenseitig ein zu leuchten, uns ins Licht zuholen; unseren Schatten, die uns bremsen, die Energie zu entziehen, ohne Anstrengung und Kampf. All das entsteht aus dem mitfühlenden, spürenden, respektvollen Miteinander sein.

Werte

Wenn sich unsere inneren Werte in unseren Handlungen und Entscheidungen im außen sichtbarmachen, sind wir glücklich und voller Bejahung für uns, wir erleben das Leben als lebenswert. Niemand kann uns diese Werte nehmen. Selbst in größter äußerer und innerer Not verbleibt uns dieFreiheit, wie wir uns in Lebensumständen verhalten wollen. Werte entstehen im gelebten Leben, durch die gemeinschaftliche Kultur, in der wir groß werden, über Handlungsvorbilder, die uns etwas vorleben, über eigene Erfahrungen, die uns prägen. Und daraus ergeben sich natürlich auch Aufgaben, entweder diesen gerecht zu werden oder aber eben auch, indem wir sie verändern. In einer aussitzenden und verdrängenden Konfliktkultur kann niemand gesund bleiben. Zu lernen, wie wir Konflikte, als besondere Form des Dialogs respektvoll austragen lernen können und dabei das Eigensein des Gegenübers achten lernen, um über die gemeinschaftlich getragene Auseinandersetzungsbewegung in eine Wir-Bewegung zu finden, wäre dann unsere Aufgabe. Im Hin und Her schwingen zwischen den extremen Polen unserer Werte, bildet sich nach und nach eine feine Mitte heraus, die uns trägt, uns Sicherheit und Halt gibt und die sich auch nicht so leicht verliert. Flow ist ein Zustand, in dem man sich befindet, wenn man vollkommen in einer Tätigkeit aufgeht und nichts anderes mehr wichtig ist. Wir können dies bei allen Berufen sehen: bei Ärzten, Sozialpädagogen, Werkzeugmachern, Zimmermänner, Sportlern, Künstlern, Musikern, Schriftstellern, Verkäuferinnen usw. Flow erleben wir, wenn wir in einen Zustand von Gleichzeitigkeit vonHerausforderung,- die meine Konzentration braucht -, und Können, - zu dem die Möglichkeit und dieFähigkeit gegeben sein muss, um etwas tun zu können, kommen. In diesem Zustand erleben wir Erfüllung, Glück, Lebensfreude, und schöpferische Wirksamkeit. Wir erleben uns im vollständigenEinssein mit unserem Tätigsein.

IKIGai führt zu einem Gefühl von Lebenserfüllung, Selbstwirksamkeit und Selbstverwirklichung. Das Erleben von Sinn, weckt eine Art von subjektiv gefühlter Sinnlichkeit und gleichzeitiger subjektiver Bedeutsamkeit. Wir fühlen uns mit der Welt verbunden und fühlen uns bedeutsam eingebettet in das Lebendige Da-Sein. Flow ist wie über das Wasser gehen, wenn wir daran glauben, trägt es uns, fallen wir in Zweifel und Ängste, gehen wir unter und müssen uns strauchelnd wieder zurück über Wasserbringen. Eine lebenslange Aufgabe, denn wir alle haben Bereiche, in denen Schätze von uns liegen, in denen wir uns stark fühlen, und dabei an uns, an die mögliche Veränderung und an Wachstumglauben und solche, die uns ins Zweifeln bringen, die uns verunsichern und uns das Leben nichtgerade leicht machen. Die uns somit das Gefühl von Begrenztheit erfahren lassen und damit Überwindungsenergie brauchen, um den Glauben an uns selbst zurückzugewinnen.

IKIGAI ist kein Trainingsprogramm für einige Tage, es ist eine Lebensaufgabe, um deren Erfüllung wir immer wieder neu Ringen dürfen. In der japanischen Kultur gibt es den Begriff „ganbatte“, eine Aufmunterung, die bedeutet so viel wie „bleib dran“ oder „gib dein Bestes“. Dieser wird oft an Kinder gerichtet. Zu dem Begriff gesellt sich dann noch oft das Wörtchen„kudasai“, was die Aufforderung weich macht, sie zu einer Bitte umformuliert. Dies entspricht der japanischen Grundhöflichkeit, sie drückt sowohl Ermutigung, als auch Respekt aus. Hier könnte man, unserer christlichen Kultur entnommen, hinzufügen, wenn Ihr nicht werdet wie die „Kinder“. Genau um dieses kindlich-unschuldige Ringen, auch als Erwachsener geht es. In der fortlaufenden„Anstrengung“ Dankbarkeit ausdrücken, dass uns das Leben geschenkt ist und dass wir deshalb, das Beste aus den mitgegebenen Schätzen herausleben dürfen.
IKIGAI - Quellen: Das Lächeln meiner Tochter, mein Schreiben, Begegnung im Beratungsprozess,
Spaziergang mit dem Hund
IKIGAI - Bedingungen: Im Moment sein, in wacher, aufmerksamer Gegenwärtigkeit sein, im Flow sein.
IKIGAI - Gefühle: sinnlich erlebte Schöpferkraft, Leichtigkeit, Freude ausstrahlendes Selbstgefühl,
Resonanz, verbunden mit uns, mit der Welt, mit anderen Menschen, mit dem, was wir tun,
Lebensfreude, ins Leben vertrauen, selbstbewusstes Erfahren von Selbstwirksamkeit.
Für die Japaner beginnt jede Art von schöpferischem Tätigwerden mit Hinterfragen, mit Unsicherheitund mit Noch-Nicht-Wissen. Die Japaner lassen sich davon nicht abschrecken. Sie fangen einfach an. Sie öffnen sich der Unsicherheit, die uns widerständig macht, stellen die selbst gesetzten Grenzen und Annahmen höflich, aber bestimmt, zur Disposition und legen demütig in kleinen Schritten los. Für die Japaner sind es die vielen kleinen Schritte jeden Tag, die wir tun, um in dem, was uns erfreut, dazu zu lernen, uns darin zu erfahren, uns gestaltend immer tiefer und detaillierter hineinzuleben und unser Tun so fast unmerklich weiter zu entwickeln und zur wahren Meisterschaft zu führen, in der das Tun und die Persönlichkeit letztendlich untrennbar miteinander verbunden sind. Wir brauchen den Mut des Anfangens und des Dranbleibens ohne das darin enthaltende Risiko zu scheuen und, ohnedanach zu schauen, wie andere darauf reagieren oder wie andere es machen. Wir folgen unserem Ruf und irgendwann wird dann daraus vielleicht eine Berufung…
Für die Japaner ist ein Tagesrhythmus, dann ein guter Tagesrhythmus, wenn er es erlaubt, zwischen Phasen von Anspannung und Herausforderung und Phasen von Entspannung und sich hellhörigmachen hin- und herzuwechseln. Denn nur wenn diese Bedingung gegeben ist, können wir IKIGAI auch fühlen. Ein guter Rhythmus schafft Struktur, die unsere erkannten Bedürfnisse berücksichtigt und ermöglicht es uns so umso flexibler und kreativer auf Veränderungsimpulse zu reagieren. Ebenso hilft uns ein bewusstes und regelmäßiges Reflektieren (Spiegeln), sinnlich fühlend zu erspüren, was unser Leben lebenswert macht. Es hilft uns wertvolle und initiatische Momente wahrzunehmen und zu vergegenwärtigen. Die tägliche, verinnerlichte Frage, wofür ich heute dankbar bin ist ein ständigerBegleiter in der japanischen Kultur, weil sie Teil einer Lebenshaltung ist. Wo habe ich Momente des Ein-Klangs, des Eins—Seins erfahren, welche kleinen oder großen IKIGAI-Momente habe ich erlebt. Es geht dabei auch darum, Dankbarkeit zu kultivieren. Indem wir bewusst erleben, was uns ein Gefühl von Dankbarkeit macht, wann wir uns dankbar fühlen, fängt unser neurophysiologisches System an, zu lernen, was uns dankbar macht und mit welcher Qualität von Gegenwärtigkeit dieses Gefühlverbunden ist. Es fängt an, nach solchen Momenten zu suchen oder sogar sie selbst zu schaffen, weil es spürt, dass das unserem System gut tut, dass es uns mit der Welt verbindet und dass wir in dieser Haltung Freude ausstrahlen und hohe Energie haben.
Um sein IKIGAI zu finden, muss man Klischees überwinden und auf die eigene Stimme hören. Das Empfinden von IKIGAI deutet auf eine bestimmte Geistesverfassung hin. Es gibt dem, der es fühlt, das Gefühl ein glückliches und aktives Leben aufbauen zu können. IKIGAI ist gewissermaßen eine Art Barometer, das die Lebensperspektive eines Menschen umfassend und treffend darstellt. IKIGAI gibt dem Leben Sinn und verleiht uns das Durchhaltevermögen zum Weitermachen. Wer sich dabei der Philosophie des Kleinanfangens bewusst ist, kann Widerstände überwinden, weil er sich durch die kleinen Fortschritte unterstützt und getragen fühlt. Jede/r, auch Sie liebe/r Leser/in, kann sein/ihr eigenes IKIGAI finden, kultivieren, im Geheimen langsam wachsen lassen, bis es eines Tageseigenständige Früchte trägt.
Die Sonne ist in Japan schon immer ein Objekt der Verehrung. Im Japanischen lautet der Landesname „Nippon“ oder „Nihon“, zwei alternative Aussprachen für einen Ausdruck, der „Ursprungder Sonne“ bedeutet. Für die Japaner ist es sinnvoll, synchron mit der Sonne zu leben, weil unsere biologische Uhr auf den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus abgestimmt ist.
Wer mit der Sonne aufsteht, ist gesegnet. Eine entsprechende deutsche Redensart lautet „der frühe Vogel fängt den Wurm“. Die Kinder werden daher auch von den Erwachsenen ermutigt, den Geist der„aufgehenden Sonne“ zu bewahren. Ein jugendlicher Geist ist ebenso wichtig für IKIGAI, wie das Gehen mit der aufgehenden Sonne. Denn der Japaner vertritt den Standpunkt, dass eine jugendliche Denkweise mit ihrer eifrig gezeigten Neugier ein Plus im Leben ist. Ebenso wichtig sind Engagement und Leidenschaft, egal wie unbedeutend das zu „Erreichen wollende“ auch sein mag. Wäre es nicht wunderbar, zeitlebens wie die Kinder bleiben zu können: Neugierig, engagiert vertieft und doch allzeitbereit, loszulassen. Denn das Loslassen ist eng verbunden mit dem „Im-Hier-und-Jetzt-Sein“, was die Kinder ja wirklich ganz besonders gut können. In der japanischen Kultur ist das „Loslassen“ aufrätselhafte Weise mit der Entdeckung sinnlicher Freuden verknüpft. Indem wir uns von der Last des Ichs befreien, können wir uns für die unendliche Welt der sinnlichen Freuden öffnen.
Negierung des Ichs klingt für manchen von uns Europäern eher abwertend. Der Ausdruck assoziiert bei den meisten von uns eher Leugnung und Ablehnung. Hier sei nun aber im Folgenden die segensreiche Auswirkung dieser Haltung im Kontext von IKIGAI beschrieben:
Wenn Sie es schaffen, den Geisteszustand des „Flow“ zu erreichen, den der in Rijeka geborene amerikanische Psychologe Mihay Csikszentmihalyi beschrieben hat, holen Sie das Beste aus IKIGAI heraus, und Dinge, wie Alltagsaufgaben fangen sogar an, Spaß zu machen. Sie werden nicht mehr das Bedürfnis nach Anerkennung für Ihre Arbeit oder Anstrengung haben, keine Belohnung irgendwelcher Art mehr suchen. Plötzlich rückt die Vorstellung in greifbare Nähe, in einem Dauerzustand von Glück zu leben, ohne das Bedürfnis unmittelbarer Befriedigung durch äußere Anerkennung. Nach Mihay Csikszentmihalyi ist Flow ein Zustand, in dem Menschen so sehr in eine bestimme Tätigkeit versunken sind, dass nichts anderes mehr zu zählen scheint. So findet man Freude an der Arbeit. Arbeit wird zum Selbstzweck statt zum widerstrebend erduldeten Mittel, um irgendetwas zu erreichen. Im Flow arbeiten Sie nicht, um Geld für Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zumindest ist das nicht die oberste Priorität. Sie arbeiten, weil die Arbeit selbst unerhörte Freudebereitet. Das Einkommen ist nur ein Bonus. Ein Kernaspekt des Flows ist es also, dass die Negierungdes Ichs zur Befreiung von der Bürde des Ichs wird. Schließlich ist nicht das Ego von Bedeutung. DieGesamtheit der unendlich vielen Nuancen der Elemente einer Arbeit ist das Wichtige. Wir sind nichtdie Meister – die Arbeit ist der Meister, und im Flow können wir uns auf freudvolle Weise mit unsererArbeit identifizieren. Es sind letztendlich das Erlebnis von Kohärenz und die Wahrnehmung von Lebenszielen, die kleine IKIGAI- Splitter in unserem Leben brillieren lassen. Im Flow-Sein heißt, das im HIER UND JETZT-SEIN schätzen. Vergangenheit und Zukunft spielen in diesem Moment keine Rolle, das Glück liegt ausschließlich im gegenwärtigen Moment.
In Harmonie mit anderen Menschen und mit der Umwelt zu leben ist ein Kernelement des IKIGAI.
Soziale Sensibilität ist ein entscheidender Faktor für gemeinsame Teamleistungen. Das IKIGAI des Einzelnen fördert im freien Gedankenaustausch in der Gruppe Kreativität, wenn sie mit anderen Menschen gemeinsam umgesetzt wird. Wenn alle beteiligten Menschen sich gegenseitig in ihrer individuellen Ausprägung wertschätzen und respektieren, können sie gemeinsam ein „goldenes Dreieck“ von IKIGAI, FLOW und Kreativität verwirklichen.
In der japanischen Kultur hat IKIGAI außerdem viel damit zu tun, in Harmonie mit der eigenen Umgebung zu sein, mit den Menschen im eigenen Umfeld und der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit – anders ist Nachhaltigkeit nicht möglich. Die Säule Harmonie und Nachhaltigkeit beinhaltet das vielleicht wichtigste und außergewöhnlichste Ethos der japanischen Geisteshaltung. Japan ist eine Nation der Nachhaltigkeit. Das betrifft nicht nur das Verhältnis der Menschen zur Natur, sondern auch die Form individueller Aktivitäten innerhalb eines sozialen Kontextes. Man sollte angemessene Rücksicht auf andere Menschen nehmen und sich der Auswirkungen der eigenen Handlungen auf die Gesellschaft als Ganzes bewusst sein. Idealerweise sollte jede soziale Aktivität nachhaltig sein. Es entspricht dem japanischen Geist, Dinge auf zurückhaltende, aber auch nachhaltige Art zu verfolgen, anstatt überschwänglich nach der kurzlebigen Befriedigung von Bedürfnissen zu suchen. Die japanische Kultur ist voller Meme und Institutionen, die IKIGAI als Antrieb für Nachhaltigkeit nutzen. Menschen sind wie ein Wald – individuell, aber doch verbunden und für ihr Wachstumvon anderen abhängig. Wenn jemand schon seit langer Zeit lebt, ist das angesichtsder Höhen und Tiefen dieser oft unberechenbaren Welt eine ziemliche Leistung.
Schließlich kommt es im langen Prozess des Lebens hin und wieder vor, dass wir stolpern und fallen. Selbst in solchen Phasen, selbst mitten in einer Pechsträhne kann man IKIGAI haben. Kurz gesagt, IKIGAI gibt es buchstäblich von der Wiege bis ins Grab, ganz egal, was in ihrem Leben passiert.
Menschen, die ihr IKIGAI finden, erleben Freuden jenseits der allzu simplen Werte des Gewinnens oder Verlierens. IKIGAI trägt dazu bei, das Beste aus Umständen zu machen, die ansonsten schwierig wären – unabhängig von der Tatsache, dass sie vielleicht schwierigsind. Wir sollten unser IKIGAI in kleinen Dingen finden. Wir sollten klein anfangen. Wir sollten im Hier und Jetzt sein. Und, am wichtigsten, wir können und sollten unserem Umfeld nicht die Schuld für einen Mangel an IKIGAI geben. Schließlich ist es unsere Aufgabe, unser eigenes IKIGAI auf unsere eigene Weise zu finden.
Zu den Vorteilen, die IKIGAI mit sich bringt, gehören Robustheit und Resilienz. – beide Stärken sind überaus notwendig, wenn etwas Tragisches geschieht. Resilienz oder Widerstandskraft ist wichtig im Leben, vor allem angesichts einer immer unvorhersehbareren oder gar chaotischen Welt.
Unter japanischen Fischern gibt es ein Sprichwort: „Unter den Planken liegt die Hölle.“ Wenn Mutter Natur einmal wütet, gibt es nichts, was man dagegen tun kann. Trotz der Risiken wagen sich die Fischer hinaus aufs Meer und tun ihr Bestes, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In genau diesem Geist, rappelten sich die Menschen in dem von Erdbeben und Tsunami betroffenen Gebieten wieder auf.
Woher nehmen die Japaner die Energie zum Weitermachen? Manche finden die Quellen und Inspiration für ihre Widerstandskraft in sozialen Normen und Moralvorstellungen. Auch Bildung und finanzielle Sicherheit spielen eine wichtige Rolle, genau wie familiäre Bindungen und Freundschaften.
Ganz klar ist auch, dass die Religion eine wichtige Rolle für die Widerstandskraft des Landes spielt und immer schon gespielt hat. Und zwar eine ganz besondere Art von Religion. Die Japaner schätzen traditionell den Gedanken, dass es im Leben unendlich viele Quellen für religiösen Sinn und Werte gibt statt einer einzigen, die für den Willen einer Gottheit steht. Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen einem einzelnen Gott, der uns sagt, was wir tun und wie wir leben sollen, und der japanischen Vorstellung von acht Millionen Göttern. Der eine Gott sagt uns, was gut und böse ist; er entscheidet wer in den Himmel und wer in die Hölle kommt. In der Shinto-Religion mit ihrem Glauben an 8 Millionen Götter ist der Glaubensprozess demokratischer, Shinto ist aus kleinen Ritualen aufgebaut, die Achtsamkeit für die Natur und die Umwelt ausdrücken. Japaner sehen Gottheiten in allem, was sie umgibt, von Menschen und Tieren, bis hin zu Pflanzen, von Bergen, bis zu kleinen Alltagsdingen. Selbst leblose Gegenstände können in der japanischen Wahrnehmung freundlich zu Menschen sein, solange wir ihnen gebührenden Respekt und Achtung erweisen. Dabei ist die in der japanischen Lebenseinstellung verwurzelte Achtsamkeit von der buddhistischen Tradition der Meditation beeinflusst. Die Vorstellung, die äußere Welt zu verändern, indem man sich selbst verändert –ein Kernpunkt der japanischen Zen-Tradition -, ist die Kulmination dieser Vielzahl von Einflüssen. Alles auf der Welt ist verbunden und kein Mensch ist eine Insel. Wenn die Japaner sagen, in einem Haushaltsgegenstand wohne ein Gott, heißt das, der betreffende Gegenstand sollte mit Achtung und Respekt behandelt werden. Und nicht etwa, dass der Schöpfergott des ganzen Universums auf wundersame Weise in diesem winzigen Ding Raum gefunden hat. Solche Einstellungen spiegeln sich im Handeln der Menschen wieder. Wer glaubt, dass in einem Objekt ein Gott lebe, geht anders an das Leben heran, als jemand der das nicht glaubt. Aus Sicht eines typischen Japaners ist das Leben eher ein Gleichgewicht aus vielen kleinen Dingen als etwas, das von einer übergeordneten Einheitsdoktrin diktiert wird. Aus japanischer Perspektive sind religiöse Themen willkommen, solange sie zur Vielfalt einer weltlichen Lebensgrundlage beitragen.
Für ein stabiles Gefühl von IKIGAI müssen Arbeit und Leben im Gleichgewicht sein. Tatsächlich gibt es eine enge Verbindung zwischen IKIGAI und unserer Vorstellung von Glück. Wir alle wollen glücklich sein, und wer IKIGAI hat, fühlt sich glücklicher. Nur wenige Bestandteile des menschlichen Lebens sind unerlässlich dafür, damit jemandglücklich sein kann. Trotz alledem neigen Menschen zu dem Glauben, dass ganz bestimmte Dinge im Leben notwendig sind für Glück, auch wenn sie es in Wahrheit nicht sind. Wenn wir allerdings auf einen bestimmten Lebensaspekt so stark fokussiert sind, dass wir denken, dass von dessen Erfüllung unser Glück abhängt, dann werden wir tatsächlich unglücklich sein. Mit einer Fokussierungs-Illusion, schafft man sich einen persönlichen Grund dafür, unglücklich zu sein. Es gibt keine absolute Glücksformel – jeder einzigartige Lebenszustand kann auf seine eigene Art die Grundlage für Glück bilden. Letztendlich muss man, um glücklich zu sein, sich selbst akzeptieren. Selbstakzeptanz gehört zu den wichtigsten und doch schwierigsten Aufgaben, denen wir uns im Leben gegenüber sehen. Tatsächlich gehörtes zum Einfachsten und Lohnendsten, was Sie für sich selbst tun können – ein preiswertes, wartungsfreies Rezept zum Glücklichsein.
Die Offenbarung ist, dass es paradoxerweise oft zur Selbstakzeptanz gehört, das eigene Selbst loszulassen, vor allem, wenn es um ein illusorisches Selbstbild geht, das man für erstrebenswert hält. Dieses illusorische Selbstbild gilt es loszulassen und aufzugeben, um sich selbst akzeptieren zu können und glücklich zu werden. Und das, was wir suchen, finden wir nirgendwo außer in uns selbst.
Die japanische Redensart „jünin toiro“ (zehn verschiedene Farben für zehn verschiedene Menschen) drückt die Ansicht aus, dass Menschen sehr unterschiedlich sind, was ihre Persönlichkeit, ihre Sensibilität und ihre Wertesysteme angehen. Wenn Sie Ihr IKIGAI verfolgen, können Sie nach Herzenslust sie selbst sein. Das ist natürlich, denn wir haben alle unsere eigenen Farben.
Die Vorstellung, dass ein scheinbar angepasster Mensch tiefgründige, oberflächlich nicht sichtbare Schichten individueller Persönlichkeit pflegen könnte, hat etwas Befreiendes. Außerdem könnte es sein, dass jedes Individuum tatsächlich eine ziemlich einzigartige Einstellung zum eigenen Leben aufweist. Individuelle Einzigartigkeit ist etwas, das man entdecken und erarbeiten muss, sie kann nicht einfach angenommen und beibehalten werden. Wenn man das eigene IKIGAI als das eines Individuums in Harmonie mit derGesellschaft in ihrer Gesamtheit definiert, entfällt ein Großteil vom Stress des Konkurrierens und Vergleichens. Sie müssen nicht auf die Pauke hauen, um gehört zu werden. Es reicht wenn Sie flüstern (manchmal auch nur zu sich selbst).
IKIGAI und Glück entstehen, wenn man sich selbst akzeptiert. Anerkennung von anderen ist dabei sicherlich ein Vorteil. Im falschen Kontext kann sie allerdings auch die entscheidend wichtige Selbstakzeptanz behindern. Wichtig bleibt: Alles in der Natur ist verschieden. Auch wir Menschen sind unterschiedlich - jeder und jede Einzelne von uns.
Feiern Sie Ihre Persönlichkeit! Lachen können über sich selbst, Selbstironie, können uns helfen, Frieden mit unseren Fehlern und Unzulänglichkeiten zu schließen. Lachen öffnet die abwehrende Blockade und ermöglicht so, das Bewusstsein durch frische von außen hinzugewonnene Erkenntnisse zu erweitern bzw. zu ergänzen.
Wenn Sie Angst davor haben, Ihrem wahren Spiegelbild Ihres Ichs oder Selbsts zu begegnen und ihm gegenüberzutreten, dann denken Sie daran, über sich selbst lachen entspannt und öffnet die Türen, wir können annehmen, was wir sehen, uns leicht damit fühlen und uns gleichzeitig in Selbstakzeptanz fühlen.
Letztendlich dürfte das größte Geheimnis des IKIGAI darin bestehen, sich selbst zu akzeptieren, egal, mit welchen einmaligen Eigenschaften man zufällig geboren wurde. Es gibt nicht den einen optimalen Weg zum IKIGAI, keine Landkarte für alle. Jede und jeder von uns darf herausfinden, dass Wege beim Gehen entstehen und wir dürfen im Dschungel der Möglichkeiten herausfinden, welcher Weg denn nun der ist, über den wir zum IKIGAI unserer Persönlichkeit finden. Und vergessen Sie auf keinen Fall, immer wieder herzhaft über sich selbst zu lachen, heute und an jedem neuen Tag!

Zu guter Letzt möchte ich Sie gerne mit einer Grafik in Kontakt bringen, die ursprünglich von demspanischen Astrologen Andres Zuzunaga stammt und die er 2012 veröffentlichte. Er nannte sie Sinn. Einige Jahre später stieß der Autor und Blogger Marc Winn auf das Venn – Diagramm und brachte es mit IKIGAI in Verbindung, obwohl es ohne Kenntnis von IKIGAI entwickelt wurde. Dieses Diagramm erstaunt die Japaner, denn es hat nichts mit der wahren japanischen Bedeutung von IKIKAI zu tun.
Wenn wir das Diagramm allerdings nicht zielorientiert und kognitiv für uns nutzen, sondern ergebnisoffen uns vorstellen, dass all die dargestellten Begriffe und Überschneidungen Qualitäten beinhalten, hinter denen auch göttliche Kräfte stehen, und wir uns erlauben großräumig und großherzig, diese Begriffe miteinander in Bewegung und in Beziehung zueinander kommen zu lassen und sie sozusagen miteinander „tanzen lassen“, dann entsteht ein Resonanzfeld, das in Bewegung ist und, das, wenn wir es mit unserem Selbst in Verbindung bringen, uns eine Art seismographische Gegenwärtigkeitsbefindlichkeit eröffnet. Dann können wir in wacher, mitfühlender Aufmerksamkeit mit uns selbst ein Spürbewusst-sein entwickeln, das uns unsere innere, momentane Wahrheit zeigt. Wo stehen wir gerade, wo liegt der Schwerpunkt, die Zielrichtung bzw. Ausrichtung unserer Lebenshaltung? Wir können aber auch spüren, wo die ungelebten und nicht wahrgenommenen Teile liegen, wo unsere Sehnsüchte und Entwicklungsaufgaben uns gerne hinführen wollen, um glücklicher und „vollständiger“ zu werden. Diese Art des nicht getakteten, offenen Prozesses, ist eine Art Experimentierraum und eine Art Forschungslabor, die andauernde Bewegung impliziert und über die Bewegung immer wieder neu Stabilität gewinnt. Nach dem Prinzip, „nur wer sich verliert, will sich neufinden“. Sie führt uns in Annäherungen immer mehr an das, was unsere Wesensaufgabe ist und ermöglicht uns so, sie immer mehr auch zu leben und zu verwirklichen. Wenn uns dies gelingt, erfüllt dies Diagramm die Haltung des IKIGAI, auch wenn es bei seiner Entstehung nichts davon wusste.

22. Juni 2024 / Joachim Armbrust


Die Wichtigkeit des Zusammenspiels von "Gefühlen, Nervensystem und Hormonen" für die Psychotherapie

Autor: Joachim Armbrust

Artikel bei raum & zeit

Das Nervensystem und das Hormonsystem des Menschen sind eng miteinander gekoppelt. Sie sind miteinander in einem dialogischen Prozess, der durch dynamische Bewegung, immer wieder neu stressiert und gleichzeitig Gleichgewicht und Erfüllung bzw. Entspannung sucht. Während über das Nervensystem elektrische Impulse sehr schnell weitergeleitet werden, werden Hormone als chemische Signalstoffe im Blutgefäßsystem transportiert. In den meisten Fällen sind die Hormone für das verantwortlich, was, wie und ob wir fühlen. Fast kein Hormon ist immer in der gleichen Konzentration vorhanden und wenn es zu Hormonschwankungen kommt, dann kann das auch Auswirkungen auf unsere Stimmung bzw. unser Grundbefinden haben. Das System der Hormone sorgt nicht nur dafür, dass alle Körperfunktionen reibungslos ablaufen. Es nimmt auch massiv Einfluss auf unsere Psyche. Ob wir vor Wut fast platzen oder auf Wolke sieben schweben oder ob wir unsere Lebensfreude verlieren - Adrenalin, Oxytocin oder Serotonin steuern die Emotionen. Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol sorgen für Stress. Unser psychisches Wohlbefinden ist also eng mit dem hormonellen Profil verknüpft. Das Hormonsystem wirkt durch seine Ausschüttungen von Hormonen auf unser Nervensystem zurück. Zu Beginn dieses Jahrhunderts beobachtete der amerikanische Physiologe Walter B. Cannon, dass bei physischen oder emotionalen Reizen wie Schmerz oder Wut die Menge des Hormons Adrenalin im Blut zunimmt und daraufhin unter anderem sich der Blutzuckerspiegel erhöht und Blut aus dem Gewebe Herz, Lunge, Hirn und Muskulatur stärker versorgt: So wird der Organismus auf Kampf und Überleben bei einer vitalen Bedrohung vorbereitet. Darum sind erhöhter Blutdruck und schnellerer Puls typische Zeichen für eine stressbedingte Überaktivierung des physiologischen Systems, die der Anstieg des Adrenalinspiegels veranlasst.

Was bringt also das Hormon-System in Disharmonie?

Die Antwort ist klar und eindeutig: Stress. Stress selbst löst Hormone aus (vor allem Cortisol und Adrenalin), die wie ein Teil unserer Basishormone in den walnussgroßen Nebennieren gebildet werden. Wenn diese Nebennieren mit der Produktion der Stress-Hormone überlastet sind, dann ist keine Kapazität für ausreichende Produktion anderer Hormone mehr vorhanden. Unser ganzes Hormon-System gerät in Unordnung. Das Übermaß an Stress-Hormonen ist hauptverantwortlich für die Entgleisung unserer Hormone. Die Liste, was Stress-Hormone auslöst, ist lang und beschreibt viele der Krankheits-Ursachen in unserer hochzivilisierten Welt:

  • Stress durch Überforderung wie Unterforderung
  • Stress durch mangelnde Selbstannahme („Ich bin nicht gut genug“ usw.) bis hin zum Selbsthass
  • Stress durch Erwartungshaltungen anderer und die Erfüllung ihrer Bedürfnisse, statt den eigenen Bedürfnissen, den eigenen Befindlichkeiten und den eigenen Werten, zu folgen.
  • Stress durch Anpassung an immer neue Situationen, dem Gefühl, ihnen nicht gewachsen zu sein
  • Stress durch Einsamkeit, Isolation, das Gefühl von niemandem verstanden und geliebt zu werden
  • Stress durch Befürchtungen, Ängste, durch Zukunftsschwarzmalerei
  • Einnahme von Stresshormonen durch Fleischverzehr
  • Stress durch Umweltfaktoren (Lärm, Luftverschmutzung, klimatische Extreme)
  • Stress durch partnerschaftliche und familiäre Konflikte
  • Stress durch Gefühle von Einsamkeit und sich verloren fühlen
  • Stress durch jede Art von Suchtverhalten, auch Co-Abhängigkeit, dem aufopferungsvollen Verhalten eines Suchtkranken gegenüber
  • Stress durch innere Leere, Sinnlosigkeit im Leben, fehlende erfüllende Aufgabe, spirituelle Verzweiflung.
  • Stress durch das Selbstgefühl nicht selbstwirksam sein zu können, und deshalb bei der Bewältigung von Aufgaben zu scheitern Lassen Sie uns also nicht nur von körperlichem und emotionalem Stress sprechen, sondern auch von mentalem und spirituellem Stress. Und damit schließt sich der Kreis des Dreiklangs Körper, Geist und Seele.

Wie können wir lernen, unsere Hormone selbst zu steuern?

Wir dürfen uns bewusstwerden, dass wir schon immer unsere Hormone steuern, wenn auch unbewusst. Wenn wir zu viel belastenden Stress in unserem Leben dulden, dann hat das Auswirkungen auf unsere Hormone. Dann werden sie selbst zur Last. Hormone als Last sind ein Spiegel für belastenden Stress. Hormone dienen allerdings nur gehorsam unseren „Anweisungen“. Sie können ja nicht ahnen, dass unsere Anweisungen aus unbewussten Ängsten, aus Perfektionsansprüchen, Groll oder Verzweiflung gespeist sind. Sie werten nicht und nehmen unsere Signale beim Wort. Bringen wir in diese unbewusst ablaufenden Prozesse Bewusstsein, werden wir also zum mitfühlenden Beobachter unserer Selbst, und leiten über unser mitfühlendes und liebendes Bewusstsein Tiefenatmung ein, senden wir an das limbische System und speziell an die Amygdala über Entspannung Entwarnung und Beruhigung als Wahrnehmungsqualität. Nur Mut! Kleine Veränderungen bewirken hier schon Großes. Bevor wir in unser Hormon-System direkt eingreifen, sorgen wir erst einmal dafür, dass wir die Produktion von Stress-Hormonen drastisch reduzieren. Wir haben die Autorschaft für unser Leben und können entscheiden, ob wir uns unsere Zukunft hinreichend gut oder farbig ausmalen oder eben schwarz und unheilvoll. Es gibt Momente in unserem Leben, da geht alles ganz leicht und wie von selbst, wir sind im „Flow“, so der Begriff, den der tschechische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi geprägt hat. Das bedeutet, dass verschiedene zusammenhängende Qualitäten unseres Seins im Gleichklang sind. In der modernen Forschung spricht man auch von Herzkohärenz. Es wirken zum Beispiel Gedanken, Emotionen und unser Verhalten stimmig zusammen. Oder auf der Körperebene geschieht es, dass Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem, Herz und Gehirn, kooperativ, miteinander verbunden und in harmonischer Resonanz miteinander sind und sich reibungsfrei koordinieren. Wir Menschen streben danach, uns wohl zu fühlen, leider gerne, indem wir unangenehme Gefühle versuchen zu vermeiden oder sie schnellstmöglich loswerden wollen. Die scheinbar effektivste Strategie sie loszuwerden, besteht darin, sie zu verdrängen. Da Emotionen aber Lebensenergieträger sind, stellen wir mit den Emotionen, die wir nicht fühlen wollen, auch unsere Lebensenergie vor die Türe. Es entsteht ein unbewusster, innerer Kampf:
Was zu uns gehört, kämpft darum, bei uns einen Platz zurückzuerobern. Weil wir diesen Teil aber ausblenden wollen, wenden wir viel Kraft auf, um ihn aus unserem Bewusstsein fernzuhalten. So haben wir einen beständigen Energiefresser in unserem System. Unangenehme Gefühle weisen uns auf verletzte oder übergangene Bedürfnisse hin und können uns eigentlich hilfreich dabei sein, zu entdecken, welches Bedürfnis wir eigentlich gehabt hätten, um es sodann als Wunsch mitzuteilen. Wissen wir genauer, was uns stört, können wir es auch ändern. Da aber länger anhaltende emotionale Reaktionen sich selbst verstärken, führt dies zu antrainierten festen Reaktionsmustern in uns, die uns nicht bewusst sind und sich nicht mehr ganz so leicht auflösen lassen.
Gleichzeitig beeinflussen diese immer wiederkehrenden Reaktionsmustern unsere Wahrnehmung, unsere Gedanken und unsere Emotionen und bilden eine Art selbstverständlicher „Wirklichkeit“. Wir haben also eine unbewusste Unfähigkeit entwickelt, ohne es zu wissen. Damit können wir aber auch nichts an ihr ändern, wir haben keinen handelnden Zugriff darauf, weil nicht mehr bewusst. Sobald sie jedoch aus ihrer unbewussten Unfähigkeit eine bewusste Unfähigkeit machen, indem sie ihre Gefühle aus der Vergangenheit, die Ihr aktuelles Verhalten und Ihre momentanen
Gefühle beeinflussen, bewusst machen, könnten Sie das automatisierte Reaktionsmuster wieder verflüssigen und durch ein neues Verhalten und damit auch durch andere Gefühlserlebnisse zu ersetzen. Emotionen und damit verbundene Gedanken lösen eine Kaskade von physiologischen Prozessen im Körper aus: Der Muskeltonus steigt, wir erröten, wir schwitzen, Herzfrequenz und Atemrhythmus verändern sich. Das heißt, sie erregen das Nervensystem und als Folge auch das Immunsystem, in hartnäckigeren Situationen wird dann auch das Immunsystem in Mitleidenschaft gezogen. Wir können den Prozess umdrehen: Wir können lernen, auf negativ besetzte Reize mit neuen, positiveren Reaktionsmustern zu reagieren. Gelingt es uns, dies öfter zu wiederholen, etablieren wir neue Gefühle, neue Reaktionen, neue Befindlichkeiten, neue Umgangsformen, die die Art unserer Hormonausschüttung verändert.

Das Feld, auf dem sich unsere Emotionen austragen, ist der Körper. Unser emotionales Gehirn, also das sogenannte limbische System ist unserem Körper viel näher, als dem Gehirn, in dem unser Verstand sitzt. Unsere Emotionen werden über zwei wichtige Körpersysteme in den Körper transportiert: das autonome Nervensystem (ANS), auch vegetatives Nervensystem genannt und das Hormonsystem. Das autonome Nervensystem ist der Teil unseres Nervensystems, der ohne unser bewusstes Zutun, 24 Stunden am Tag, nahezu sämtliche Prozesse in unserem Körper reguliert und so unser Überleben sichert. Es besteht aus zwei Linien: Sympathikus und Parasympathikus. Während der Sympathikus grob gesagt für Aktivität zuständig ist, und auch bei Stress die Kampf- oder Fluchtreaktion steuert, hat der Parasympathikus die Aufgabe, für Erholung zu sorgen und neue Energie verfügbar zu machen. Der Parasympathikus reguliert deshalb auch unsere Verdauung. Das Hormonsystem produziert je nach emotionaler Lage unterschiedliche Hormone. Die wichtigsten Stress-hormone sind Adrenalin und Cortisol. Wenn wir uns wohl fühlen, wenn es uns gut geht, werden vermehrt das Sexualhormon Dehydroepiandrosteron (DHEA) und Oxytocin ausgeschüttet. Die Stresshormone Adrenalin und Cortisol sind für unser Überleben zwingend notwendig. Dauerhaft zu viel davon in unserem Blutkreislauf schadet jedoch langfristig unserer Gesundheit. DHEA und Oxytocin hingegen fördern unsere Gesundheit. Als Glückshormone werden umgangssprachlich Hormone oder Neurotransmitter bezeichnet, die Wohlbefinden oder Glücksgefühle hervorrufen können. Die bekanntesten sind Dopamin, Serotonin und Endorphin. Weitere heißen Noradrenalin, Phenethylamin und Oxytocin. Die bekanntesten Hormone, die der Körper bei Stress freisetzt, sind Noradrenalin, Adrenalin und Cortisol. Noradrenalin und Adrenalin gehören zum sog. sympathoadrenomedullären System. Dieses System aktiviert sich sofort, wenn der Mensch einem Stressfaktor ausgesetzt ist.

Es gibt also genügend Anhaltspunkte dafür, dass emotionale Zustände und die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen Auswirkungen auf den Hormonhaushalt haben. Wache, mitfühlende Präsenz und das innere Halten eines unterstützenden Raumes wirken sich wiederum positiv auf das emotionale Wohlbefinden aus und beeinflussen somit indirekt den Hormonhaushalt. Unsere Fähigkeit, in einem Zustand von innerer Balance und Flow zu bleiben, wird bestimmt von unserer Fähigkeit, unsere eigenen Emotionen zu regulieren und Energieabfluss zu beenden. In einem Zustand von Kohärenz sind Herz, Geist, Emotionen und Körper in harmonischer Ordnung und im Gleichklang. Es geht darum, die innere Haltung zu den Stressquellen und unsere innere Interpretation zu ändern, destruktive Reaktionsmuster zu durchbrechen und bewusst zu wählen, wie wir auf eine stressauslösende Situation reagieren. Dabei kann die Atmung auf den Herzrhythmus Einfluss nehmen. Atmung und Herzrhythmus sind eng miteinander verbunden. Bei der Einatmung steigt die Herzfrequenz, bei der Ausatmung sinkt sie wieder. Aus der Forschung wissen wir, dass unangenehme Emotionen wie Frust und Ärger zu einem inkohärenten oder gar chaotischen Muster im Herzrhythmus führen. Durch die enge Verbindung zwischen Herz und Gehirn schränkt Inkohärenz die
Fähigkeit des Gehirns ein, Informationen zu verarbeiten. Wir können uns aber auch die Herz-Gehirn-Kommunikation zu Nutze machen und kohärente, sowie harmonische Signale vom Herz aus zum Gehirn senden. Hier beispielhaft eine Möglichkeit, die über den Atem führt: Stellen Sie sich vor, Sie atmen über das Herz ein und aus. Atmen sie verbrauchte Energie aus, atmen sie frische Energie ein; atmen sie Anspannung aus und atmen sie Leichtigkeit ein; atmen sie Sorge und Angst aus und atmen sie Vertrauen und Dankbarkeit ein; atmen sie Mitgefühl aus und atmen sie Selbstmitgefühl ein. Stellen Sie sich vor, wie über das Ein- & Ausatmen, ihr Organismus, ihr Körper mehr und mehr sich mit Licht und Liebe füllt. Diese Übung macht zweierlei: Sie öffnet unser System für das Außen und löst somit die Einkapselung auf, die bei Stress immer eintritt (Tunnelblick).
Durch die positiven Impulse und die Atmung beruhigt und entspannt sie unser System und lässt positive Bilder aufsteigen, die die Zukunft wieder als erstrebenswert und uns rufend erstrahlen lassen. Bindung, Selbstkontakt sowie Sicherheitserleben sind zentrale Grundvoraussetzungen, um den Herausforderungen des Lebens auf gesunde Art und Weise zu begegnen. Bindungsbasierte Körperpsychotherapie ist ein kompliziertes Wort, aber im Grunde basiert sie auf genau diesen, wesentlichen Prinzipien:

  • Verbindung zu uns Selbst und Anderen schafft Sicherheit.
  • Sicherheit erzeugt Entspannung, Klarheit und Selbstregulation auf körperlicher und emotionaler Ebene.
    Bindungsfähigkeit und die annehmende, liebevolle Selbstbeziehung zum eigenen Körper stärken also Ihre Widerstandsfähigkeit. Körperliche und emotionale Gesundheit in herausfordernden Lebenssituationen aufrechterhalten zu können, wird auch Resilienz genannt.

Artikel bei raum & zeit

22. Juni 2024 / Joachim Armbrust


Stille, Fülle und Bewegung

Gerade noch kämpfe ich.
Stecke fest in meinen Lebensthemen.
Ich rege mich auf.
Ich zieh mich zurück.
Ich verzweifle.
Das Leben empfinde ich als schwer.
Ich sammle meine Kraft.
Ich schöpfe Hoffnung.
Ich versuche etwas Neues.
Ich glaube an mich.
Doch die Welt macht nicht, was ich will.
Ich gebe auf.
Ich weiß nicht mehr weiter.
Kämpfe in mir.
Vor und zurück.

Ich halte inne.
Ich nehme mir Zeit, horch in mich hinein.
Nehme Verbindung zu mir auf.
Alles fällt ab von mir.
Nichts ist mehr wichtig.
Nur ich bin noch da in diesem Moment.
Und gleichzeitig spüre mich als Teil von Allem.

Gedanken kommen und gehen.
Begleitet von allerlei Gefühlen.
Sie gehen durch mich hindurch.
Ich lasse sie los.
Ich bin da.
Ich bin Leben.
Ich lebe den Augenblick.
Ich bin.
Ich bin voller Zuversicht und Bereitschaft,
das Leben zu nehmen, wie es kommt.
Die Angst hat sich verloren, für einen Moment.
Ich bin Energie.
Ich bin freie Energie, die sich neu ins Leben verschenken will.
Energie, die sich verwandelt in Kraft.
Kraft, die Leben hervorbringt und entfaltet.
Kraft, die durchdringt und Reifung will und Verwandlung.
Kraft die vorantreibt und Liebe will.
Steh auf, pack es an.
Nimm dein Leben
in die eigenen Hände.
Folge dem Ruf deines Wesens und
gestalte es sichtbar in dein Leben hinein.
Wende das scheinbar
unvermeidbare Geschick, die lauernde Dunkle Befürchtung,
mit allen Kräften, die du hast
hin zu deinem Glück.

Joachim Armbrust

26. Januar 2024 / Joachim Armbrust


Lebensreise

Immer wieder bereisen wir unser Leben.
Jeden Tag reisen wir durch unser Leben.
Manchmal unmerklich.
In besonderen Momenten nehmen wir unser Reisen als Lebensreise wahr.
Wohin bin ich gereist, die letzten Tage?
Wer hat mich mitgenommen auf eine kurze oder längere Reise?
Hatte ich das von der Zukunft her schon erlebt und vorausgewusst oder erahnt?
Wo bin ich hingereist ganz entgegen meines gefühlten Lebensplans?

Habe ich überhaupt einen Lebensplan?
Darf dieser Plan durcheinander gebracht werden?
Durchgeschüttelt werden?
Impulse bekommen von außen oder von innen?
Darf er mich auf eine neue Spur bringen?
Von welchen Erlebnissen und Begegnungen ist und war mein Leben die letzten Tage begleitet?
Was davon zog einfach vorbei und weiter?
Hat mich nur peripher gestreift…. Kaum wahrgenommen berührt…..
Was ist in meinem Feld hängen geblieben und will vielleicht zur integrierten Erfahrung werden?
Will integriert, verstanden und/oder durchfühlt werden?

Was spüre ich, wenn ich in mein Feld spüre?
Spüre ich mich?
Spüre ich mich in (m)einem Feld?
Verbunden mit allem?
Abgekapselt mit mir?
Was umfasst das Spannungs- und Lebensfeld, in dem ich gerade stehe?
Was sehe ich als mein „nahe bei mir seiendes“ Entwicklungsfeld?

Lebe ich planend?
Lebe ich suchend?
Lebe ich mich überlassend, an das was kommt oder kommen mag?
Lebe ich getrieben?
Mich einlassend?
Mit mir und der Welt kämpfend?
Lebe ich mit mir oder ohne mich?
Habe ich mich unterwegs verloren?
Lebe ich leidend oder genießend?
Lebe ich mich überhaupt?
Oder werde ich gelebt?

Vergegenwärtigst du dich deiner?
Und vergegenwärtigst du dich auch deines Zustandes?

Ob wir es wollen oder nicht, irgendwann findet uns das Leben.
Es findet uns:
in unserem erwachenden Leben.
In unserem erfüllten Leben.
In unserem liebenden Leben.
In unserem reisenden und bereisten Leben.
Ob du zustimmst oder nicht, ob du es wahrnimmst oder auch nicht,
jeden Moment befindest du dich auf deiner Lebensreise.
Wann genau sie für dich anfängt und wann sie aufhört,
das weiß keiner so genau,
außer du selbst….
….wenn du es wissen und fühlen willst….
Berühren und berührt sein, das ist es, was uns trägt, auf unserer Lebensreise.
Was uns in sie mitten hinein stellt und in unsere Kraft.
Dafür braucht es nicht nur dich oder mich, sondern uns!
Danke an uns, dass es uns gibt.

Autor: Joachim Armbrust

26. Januar 2024 / Joachim Armbrust


Aufstellungstag - Kommentar von Hans-Christian Hinne in SALVE

Aufstellungstag, am 27.7.23, Kommentar von Hans-Christian Hinne in SALVE, Dein Gesundheitsgruß

6. August 2023 / Joachim Armbrust


Bedeutung von Psychotherapie aus der Perspektive der urmenschlichen Sehnsucht nach Verbundenheit, als grundlegender Aspekt von Heilung

Aus meiner bisherigen, beruflich-menschlichen Erfahrung heraus, möchte ich gerne feststellen: Es gibt im Menschen eine ganz ursprüngliche Sehnsucht nach Verbundenheit. Immer wieder wird mir offenbar, dass Verbundenheit und Verbundensein, etwas existentiell Menschliches ist.
Das Bedürfnis nach Verbundenheit, - ich wage zu behaupten, dass es in jedem von uns existiert, - ist zugleich eine Sehnsucht nach Ganzheit und Heilsein. Dazu gehört für mich, sich in lebendiger Weise verbunden zu erleben mit seinem Körper, aber auch mit seinen Gefühlen, mit seinen Stimmungen und Befindlichkeiten, auch mit dem was wir denken, mit dem, was über uns hinausreicht, was „größer“ ist wie wir.
Mit sich selbst verbunden sein, heißt auch, sich anzunehmen mit schlechten Gefühlen, mit Befürchtungen, mit Ängsten, mit gefühlter Hoffnungslosigkeit, ja auch mit dem eigenen Kranksein.

Es geht darum, nichts auszugrenzen von dem, was in uns ist, ja, von dem, was wir sind. Sondern uns in Liebe zu umfangen.
Alles, was uns ausmacht und was darüber hinausreicht, in unser Herz zu nehmen, es liebend da sein zu lassen und ihm zu folgen. Darauf zu vertrauen, dass das, was in uns ist, richtig ist und dass es in der Lage ist, uns unseren Weg zu zeigen, wenn wir darauf bauen. Das heißt nichts anderes, als uns den in uns liegenden Lebensbewegungen anzuvertrauen, uns ihnen zu überlassen.

In dieser tiefen Art der Verbundenheit, die wirklich existenziell und tief ist, liegt die Kraft, die uns heilen kann. Sie fordert uns auch zu der Frage auf, was brauche ich, um wieder gesund zu werden?
Ich kann dich in meiner Begleitung auf diese Frage stoßen, dich einladen, sich ihr zuzuwenden, aber was genau du brauchst, um wieder gesund zu werden, dich besser zu fühlen, um wieder heil und ganz zu werden, kannst nur du wissen. Denn nur du selbst stehst mit dem tieferen Sinn hinter allem, was dir geschieht, in Verbindung.

Natürlich brauchen wir eine Medizin, die für einen kranken Menschen eine gängige Maßnahme findet, die ihm helfen könnte. Das kann je nachdem eine Operation, eine medikamentöse Therapie, eine physikalische Therapie oder auch anderes bedeuten. Wir brauchen diese Therapieverfahren – sie gehören ins Zentrum unseres Selbstverständnisses im Zusammenhang mit Medizin.

Nur, wenn das alles wäre, was wir jemandem in seinem Kranksein anbieten, übersehen wir möglicherweise etwas, das für den Betroffenen genauso wichtig ist, und verpassen eine weitere Möglichkeit der Hilfe. Denn jemand, der krank ist, braucht mehr als nur medizinische Behandlung.
Er braucht zum Beispiel, dass wir ihm liebevoll, mitfühlend und mit
Respekt begegnen. Er braucht, dass wir ihn als Menschen sehen,
nicht nur als Krankheit, und ihn, wie er ist, als Menschen annehmen
können.
Jeder Mensch, der zu mir kommt, braucht auch mein wirkliches Da-Sein für ihn – auch das gehört für mich zur gesunden Professionalität.
Und ich meine tatsächlich Da-Sein.
Wir müssen nicht immer gleich etwas tun. Jemanden einfach nur bei der Hand nehmen und Da-sein. Viele medizinische Maßnahmen würden sich möglicherweise erübrigen, wenn wir uns mehr Zeit nähmen, um da zu sein. Dieses Da-Sein betrifft alle Ebenen. Wir sind da für die körperlichen Belange des kranken Menschen, wir sind aber auch da für seine psychischen Belange. Wir sind da für das, was ihm Gedanken macht und welche Überzeugungen ihn in Bezug auf sein Kranksein plagen. Das ist sogar sehr wichtig, was der Mensch denkt, denn das bestimmt sehr viel von dem, was geschieht.
Wenn ein Mensch in der Vorstellung lebt „Ich bin so sehr schwer krank, chronisch krank, da komme ich nie wieder raus“, dann bahnt das bereits etwas an, das auch tatsächlich Realität werden kann.
Der Umkehrschluss gilt allerdings nicht eins zu eins. Wir können uns leider nicht einfach so gesund denken.
Beim Gesundwerden spielen ganz tiefe Schichten, die uns oft nicht zugänglich sind, eine gewichtige Rolle.

Aber allein schon die innere Haltung, zu denken, dass wir wieder gesund werden können, lädt bereits zu einem Heilungsprozess ein. Sie stellt Weichen, hilfreiche Schritte zu unternehmen, Stück für Stück mit der Krankheit umgehen zu lernen, sie vielleicht verwandeln zu können oder mit ihr leben zu lernen.
Auch das ist aus meiner Sicht eine zentrale Aufgabe im Heilberuf: Menschen darin zu begleiten, auch mit einer Krankheit, wenn sie sich nicht heilen lässt, leben zu können – und das sinnerfüllt.
Eine Begleitung, die auf Verbundenheit setzt, braucht einen freien, offenen spirituellen Raum: Wir begleiten die erkrankten Menschen auf allen Ebenen – körperlich, emotional, mental und spirituell.
Spiritualität beinhaltet die essenziellste Form von Verbundenheit, denn sie meint immer das, womit wir uns existenziell über uns als Person hinaus verbunden fühlen. Diese Art der transzendenten Verbundenheit muss für jeden ganz offen sein. Denn das muss nicht religiöse Gläubigkeit bedeuten. Auch ein Atheist kann in sich eine tiefe Überzeugung vom Sinn seines Lebens tragen. Die Offenheit des spirituellen Raums ist also zentral. Denn die Menschen, die zu uns kommen und Hilfe suchen, kommen in einer ganzheitlichen Begleitung unweigerlich an ihre essenziellen Fragen und Grenzen, die, wenn sie berührt werden, oft schon heilsam wirken können. Der Schlüssel, der ihnen den Zugang zu diesen essentiellen Fragen und Grenzen eröffnet, ist nur allzu oft durch Schmerzen, durch lange Erkrankung, durch Behinderung oder im vermeintlich oder real eingeleiteten Sterbeprozess zu finden. Wo auch immer wir in einer Lebenskrise sind, berühren wir die Fragen unserer Existenz und damit auch den spirituellen Raum.
Für mich ist eine Psychotherapie der Verbundenheit eine Therapie, die diesen Raum miteinschließt.
Der offene spirituelle Raum muss eine Einladung an alle Menschen
sein: Der eigene spirituelle Hintergrund, die eigene Idee
vom Leben und seiner Quelle, der eigene innere Ort, wo sich
jemand Zuhause und verbunden fühlt, braucht seinen Platz in
der Begegnung zwischen Hilfe suchendem Menschen und Therapeut/in.
Es braucht einen offenen Raum, um den Menschen, die wir begleiten, Angebote der Steuerungshilfe in ihren Raum hinein zu verschenken und mit ihnen gemeinsam nach Antworten auf die für sie wichtigen Lebensfragen zu entwickeln.
Wir können niemandem sagen: Das ist richtig, da geht es lang. Wir können immer nur Fragen: Wie siehst Du es? Wie erlebst Du es? Wie ist es für Dich? … Dann geschieht etwas.
Da sein können – ein fundamentales Ja zu dem, was ist, einnehmen, das ist die zentrale und heilende Aufgabe!
Die Haltung, die darin liegt, ist eine Haltung des Mich-Zuwenden-
Könnens. Wir können das auch als Herzqualität bezeichnen.
Diese Qualität, sich allen Belangen den Uns-Anvertrauten zuwenden
zu können, all dem, was ihnen für ihre Heilung wichtig ist – ob das eine schwere, somatische Krankheit, eine psychische
Krankheit oder eine spirituelle Krise ist, was auch immer – meint
eben ein bedingungsloses Da-Sein für den Anderen.
„Ich wende mich dir zu, ich bin da.“
Dieses Da-Sein und Dabei-Bleiben ist in sich eine liebende Haltung. Byron Katie spricht von „Lieben, was ist“ (Katie 2012).
Können wir ganz da sein, bezeugen wir, was ist. Den Schmerz, das Leiden. „Ich bin nicht mehr allein damit.“ Das ist so wohltuend und bereits ein erster Schritt im Heilungsprozess.
Das ist ein fundamentales Ja. Ich sage „ja“ zu Dir. Und das ganz
und bedingungslos. Und ich meine mit diesem Ja Dich in Deinem
tiefsten Wesen. Wir müssen nicht Ja zu jeder Ecke und Kante
sagen, die jemand hat. Die darf jeder haben, - wir sind so.
Das Menschliche ist menschlich. Aber ich sage Ja zur Dir als menschliches Wesen. Und ich sage Ja zu dem, was gerade mit Dir ist. Ich kann Ja sagen zu Deiner Verzweiflung und Deinem Leiden. Ich kann das sehen. Das ist so. Ja. Und ich kann das, weil ich mich mit meinem eigenen Schmerz, mit meiner eigenen Unzulänglichkeit, mit meinen eigenen Themen auseinandergesetzt habe. Das hilft mir, auch Dich darin anzuschauen und zu erkennen.
Ich muss mich nicht mehr abwenden von Deinem Leid, denn ich kann ihm standhalten, es einen Moment für dich, aber vor allen Dingen mit dir zusammen tragen.
Was keinesfalls heißt, es für den Anderen zu übernehmen!
Was sich verheerend auf unsere Klienten auswirkt, ist, wenn
wir ihr Leid nicht aushalten können und uns abwenden. Denn damit
lassen wir sie in ihrer höchsten Not allein. Wenn wir gelernt
haben, auch mit den existenziellen Themen umzugehen, können
wir einfach da sein und müssen uns nicht mehr abwenden, weil es
uns überfordert. Wir brauchen also auch eine Entwicklungsmöglichkeit
für uns selbst im Heilberuf, um einen guten Umgang mit diesen Dingen lernen zu können.
Am Boden des fundamentalen „Ja, ich bleibe da, was auch immer gerade ist“ wohnt die Liebe.

Autor / Copyright  Joachim Armbrust

28. Mai 2022 / Joachim Armbrust


KIT - Kindertagespflege Öhringen - Seminar zum Thema Nachhaltigkeit im Kloster Schöntal

KIT- Kindertagespflege Öhringen
Seminar zum Thema Nachhaltigkeit im Kloster Schöntal

Seminarleiter: Joachim Armbrust und Sandra Rose
https://kit-hohenlohekreis.jimdo.com/home/aktuelles/

27. Februar 2022 / Joachim Armbrust


Psychotherapie und Körperarbeit

In unserem Körper sind all unsere (Lebens-) Erfahrungen, die wir gemacht haben - und ja, sogar Erfahrungen aus Vorgenerationen abgespeichert. Was bedeutet das konkret? Unser Körper, jede einzelne Zelle, besitzt ein Körpergedächtnis. Es gibt vielerlei körpertherapeutische Methoden, aber auch geistige Heilweisen, die dieses Körperwissen aufschließen können. Gelingt es uns mit diesem vordergründig verborgenen Ort in uns in Berührung zu kommen, erhalten wir authentische Antworten und können noch nicht gelebte Potentiale entschlüsseln. Neben alten Traumatas, sind im Körper auch die noch nicht gelebten Impulse für stimmige Entwicklung vorhanden, wenn sie denn in aufmerksamer Begleitung als Schatz gehoben werden können.
Dafür braucht es Wissen, Einfühlung, gute Methoden und eine zugewandte, mitfühlende und wertschätzende Haltung, wie auch theoretischen Hintergrund von Systemtheorie, Bindungstheorie, tiefenpsychologisch fundierter Körperpsychotherapie und Hirnforschung; einen selbsterfahrungs- und praxisbezogenen Erfahrungsraum, um Körperwahrnehmung, Körpererfahrung und Körperausdruck in situativer Passung impuls- und haltgebend in die persönliche Arbeit mit dem Klienten (-System) zu integrieren. Im fließenden Wechsel von Interventionen auf allen Ebenen des Bewusstseins öffnet sich der therapeutische Beziehungsraum zu einem wachen, lebendigen Prozess, der den begleiteten Menschen vitalisiert. Es gibt schließlich keinen Menschen ohne einen Körper: Meine Geschichte manifestiert sich ebenso in meinem Körper wie die Art und Weise, wie ich im Hier und Jetzt Beziehungen gestalte und wie ich über meine Zukunft nachdenke. Ich bin meinen Körper und ohne meinen Körper bin ich nicht. Habe ich meinen Körper verloren, so habe ich mich selbst verloren. Finde ich meinen Körper, so finde ich mich selbst. Jeder Mensch verfügt über Selbstheilungskräfte. Selbstheilung ist sowohl biologisch als auch psychisch immer als Prinzip verfügbar. Die Frage ist, schaffen wir es, dieses Prinzip aufzurufen. Deshalb ist jeder Mensch zunächst einmal für sich selbst die beste Medizin. Der achtsame, intuitive Atem kann dabei der Schlüssel sein, der uns die Tür öffnet.
Indem der/die Begleiter/in den Menschen als jemanden sieht, der in jedem Augenblick Beziehungen gestaltet und Beziehungen verändern kann und damit auch alte Muster auflösen kann, lädt er ihn dazu ein sich auf sich selbst in neuer Weise zu beziehen und damit aus einer unerhörten Geschichte eine erhörte Geschichte zu machen. Eine Psychotherapie, die den Menschen in seinen Hoffnungen, Sehnsüchten und Visionen von einer besseren Zukunft sieht und ihn unterstützt eine Zukunftsgestalt nach vorne zu entwerfen, lädt letztlich dazu ein, dass er sich von dieser selbst erweckten Zukunftsgestalt in die Gegenwärtigkeit rufen lässt. Mit jedem kleinsten Schritt hin auf diese Zukunftsgestalt zu, wächst ihm Energie und Reifung, im Sinne von erfülltem Wachstum, zu. Wie gut, wenn dieser Blick auf den Menschen in einer stimmigen Balance zwischen Körper, Geist und Seele stattfindet.
Auf dem spirituellen Weg geht es vor allem um Integration, das heißt, durchlässiger zu werden, Blockaden und Fixierungen zu lösen, Verdrängtes anzunehmen, Abspaltungen wieder anzukoppeln, sich der (eigenen) Wirklichkeit zu stellen und Zentrierung zu stärken. Integration braucht eine gute Erdung und eine Verankerung im Hier & Jetzt. Die Entwicklung des Körperspürbewusstseins unterstützt diesen Integrationsprozess.
Jede/r kann über das Spüren des eigenen Körpers auch seinem eigenen inneren Wesen näher kommen. Spüren ist wie ein Muskel, der entwickelt werden kann und der mich für meine eigene innere Wirklichkeit öffnet und der uns einen Zugang zu tieferen spirituellen Erfahrungen ermöglicht. Wirkliches Spüren ist ein ganzheitlicher Prozess, in dem die Gefühle einbezogen sind. Ich meine, wenn ich von Achtsamkeit spreche, ein ganzheitliches Spürbewusstsein, keine distanzierte, abgespaltene Haltung, sondern „eine Beobachtung des Körpers subjektiv im Körper seiend“ und „eine Beobachtung der Gefühle aus dem inneren der Gefühle heraus“. Das heißt, man ist gleichzeitig im Körper und in den Gefühlen und man ist gleichzeitig der Körper und die Gefühle. Achtsamkeit schließt Spüren und Fühlen ein – sie ist also eher ein ganzheitliches Spürbewusstsein oder ein spürendes Präsentsein.

Um in der Welt und mit uns selbst einen guten Weg zu finden, brauchen wir einen fühlbaren Grund, der trägt. Wir wollen uns so verankert wissen, dass wir das Gefühl haben, „mit beiden Füßen auf der Erde zu stehen“. Das tun wir dann, wenn wir die Wirklichkeit so sehen wie sie ist, nicht wegschauen, nicht verleugnen, aber auch nicht verteufeln. Annehmen, dass das Leben uns führt und nicht wir mit unserem Willen die Führungs-Hoheit haben, ist eine grundlegend wichtige Ausgangshaltung. Erdung bedeutet in diesem Sinne, mit seinem Wesen verbunden zu sein, anzuerkennen, dass wir ein Teil des universellen Seins sind. Erdung bedeutet also, einen wesensstimmigen Platz in der Welt zu finden, der für uns bestimmt ist. Erdung heißt aber auch, uns innerlich auf der Erde niederzulassen, ihr zu vertrauen, dass sie uns trägt und uns ihr zuzumuten. Erdung bedeutet, die Kraft, die aus der Erde kommt, in uns hineinfließen zu lassen, uns von ihr tragen zu lassen. Erdung meint, uns in uns selbst, in unserem Körper niederzulassen, in unserem Körper zu wohnen. Erdung heißt auch, in der Gegenwart präsent zu sein. Erdung bedeutet, uns den Widersprüchen und Herausforderungen des Lebens auf der Erde zu stellen und nicht (in eine spirituelle Scheinwelt) zu flüchten. Erdung bedeutet, mit der relativen Wirklichkeit, mit unseren Begrenzungen und mit Grenzen, auf die wir stoßen, gesund und reif umgehen zu können. Erdung können wir in und durch unseren Körper entwickeln, indem wir unsere Körperbasis, nämlich unser Becken, unsere Beine und Füße mit unserer Aufmerksamkeit, mit unserem Spürbewusstsein, mit unserer eigenen Präsenz anfüllen, uns in uns selbst in sie niederlassen und immer wieder die Erde unter unseren Füßen spüren. Nur wenn eine gute Erdung und Verankerung im Becken vorhanden ist, kann sich der Bauch als Machtzentrum entspannen und sich das Herz, das oft permanent in Hab-Acht-Stellung und angespannt ist, wenn wir keinen sicheren Ort haben, hingeben und entspannen. Erdung gibt innere Stabilität und Sicherheit und ermöglicht uns, uns niederlassen und entspannen zu können. Gerade, wenn wir einem spirituellen Entwicklungsweg folgen, der uns ruft, ist die Gefahr immer wieder groß, dass die Erdung verloren geht und wir in dieser Welt nicht mehr zurechtkommen. Singen wir also ein Loblied auf den Atem, der die Fähigkeit besitzt, uns Sicherheit zu geben und uns gleichzeitig ermutigt uns auf die Lebens- und Körperprozesse einzulassen, ihnen von innen heraus zu folgen, ein Teil von ihnen zu werden.
Je mehr und je tiefer wir unseren Körper spüren können, desto genuss-voller können wir unseren Körper erfahren. Das liegt daran, dass wir dabei ja nicht nur das Gewebe, die Muskeln und die Knochen spüren, sondern auch mehr und mehr die verschiedenen Flüssigkeiten und die feinstofflichen Energien, die unseren Körper durchdringen, sowie die feinen Schwingungen und Rhythmen. Diese zu spüren können Genuss, innere Freude und das Gefühl, ganz bei sich zu sein, hervor-bringen. Konzentration und körperliche Entspannung lösen warme, freundliche Körperempfindungen aus, die bis hin zu Gefühlen von Verzückung gehen können. Denn wenn sich unser Körper für unser Wesen und damit für unser Sein öffnet und dadurch die Türen zum reinen Bewusstsein aufschließt, verstärkt sich die Selbstregulierungsfähigkeit des Körpers und es aktivieren sich unsere „Zellkinder“ und damit unsere Selbstheilungskräfte.
Wenn ich meinen Körper wirklich spüre, dann gebe ich meinem Körper meine Aufmerksamkeit und bin in ihm präsent. Wenn ich einem lebenden Wesen meine zugewandte, entspannte Aufmerksamkeit schenke, wirkt sich das in der Regel positiv aus. Wir alle kennen das, wenn uns ein anderer, vertrauter Mensch seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt und er in diesem Moment nichts Bestimmtes von uns erwartet, sondern uns so annimmt, wie wir gerade sind, ist das sehr angenehm. Dann fühlen wir uns gestärkt, verstanden, entspannt usw. So ist es auch mit unserem Körper: wenn wir ihm unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken, dann kann er etwas entspannen, etwas loslassen, sich etwas besser selbstorganisieren und regulieren. Dann können die in uns wohnenden Selbstheilungskräfte etwas mehr wirken. Dasselbe gilt auch für unsere Gefühle: Wenn wir ihnen unsere ungeteilte Aufmerksamkeit geben, ohne sie direkt oder subtil zu manipulieren oder zu kontrollieren, können sie ihrer eigenen innewohnenden Bewegung nachgehen und die in uns wohnende Lebenskraft kann auch durch die Gefühle in Richtung Ganzwerdung und Integration wirken.
Ursprünglich ist unser Körper mit seinen Sinnen ein gut funktionierender Signalgeber, wenn es um die Wahrnehmung der grundlegendsten Bedürfnisse des Überlebens und Wohlbefindens geht. Viele Menschen haben die Fähigkeit des Körpers, uns zum Glück zu leiten, nicht ganz verloren. Doch die meisten Menschen können sich auf ihre Sinne und die Signale des Körpers nicht mehr verlassen.
In der Psychotherapie arbeiten wir an der Verbindung von Geist und Körper. Worte können heilen, können bis in den Körper hinein, ja bis in die Zellen hinein, heilend wirken. Wir fragen uns andauernd, wie kann ein Körper, der aufgrund von Erlebnissen in den Kreislauf von Erstarrung, Anspannung und Schmerz geraten ist, sich in der sicheren Gegenwart wieder einladen lassen, weicher, durchlässiger und beweglicher zu werden? Denn wenn sich innerer Friede einstellt, kann sich auch immer ein Gefühl von Geborgenheit und Aufgehobensein einstellen. Physiologisch würde man von „Umschalten auf das vagale, also das autonome, parasympathische Nervensystem“ sprechen, welches die Tür zu den genialen körpereigenen Selbstheilungsressourcen öffnet. Das erlaubt jedem/r, sich zu regenerieren, wieder sich selbst zu werden, sich selbst wieder gerecht zu werden. Ins Üben mit dem Körper zu gehen, ist wie anzukommen, wie heimzukommen. Das Gefühl von Zerrissenheit, von Mangel und Verlust, löst sich auf. Es fühlt sich erfüllt und wesentlich reicher an, wie noch vor einem Augenblick. Und es stellt sich damit auch ein Gefühl von Sicherheit ein.
Der Körper sagt uns dann wieder, wie wir uns wirklich fühlen, deshalb kann unser Körper unser spiritueller Führer sein. Die Wahrheit ist in unserem Körper gespeichert, und obwohl wir in der Lage sind, sie zu verdrängen, können wir sie nie verändern. Unser Verstand kann getäuscht werden, unsere Gefühle können manipuliert und unsere Vorstellungen verwirrt werden, und unser Körper kann mit Medikamenten ausgetrickst werden. Aber eines Tages wird uns unser Körper die Rechnung präsentieren, denn er ist ebenso unbestechlich wie ein Kind, das noch ganz in seiner Seele ist und keine Kompromisse oder Entschuldigungen akzeptiert. Unser Körper wird so lange nicht aufhören, uns zu quälen, bis wir aufhören, vor der Wahrheit zu fliehen.
Es gibt einen inneren, heilen Raum in unserem Körper, einen Seelengrund. Beim tiefen Einatmen in den Bauch erweitert sich der Raum nach unten und nach oben: Nach unten, indem sich das Zwerchfell wie ein umgekehrtes Gewölbe nach unten dehnt. – Nach oben, in dem der Brustkorb wie ein Regenschirm aufgespannt wird. So entsteht eine Art heiliger Leibraum der inneren Mitte, die den universellen Atem und die Gegenwärtigkeit desselben aufnimmt und Heimat gibt. In diesem Seins-Zustand spüren wir ein deutliches Durchströmtsein des ganzen Körpers von Lebenskraft, bis in die Finger- und Zehenspitzen hinein.
Den eigenen Bedürfnissen auf die Spur zu kommen lohnt sich! Denn nur ein wahrgenommenes Bedürfnis kann auch „gestillt“ werden. Wer weiß heute noch etwas von seiner bedürftigen Seele, die es nach dem Urgrund, nach Wahrhaftigkeit und Wesensnähe dürstet? Unser Atem verbindet uns mit dem großen Atem. Der Atem verbindet uns also mit uns und der Welt, er belebt uns. Lasst uns also einen Raumwechsel über den Körper und den Atem vornehmen: Heraus aus der getakteten, zielgerichteten Zeit, hinein in einen Raum von Zeitlosigkeit, Absichtslosigkeit und Verlangsamung. Heraus aus dem Willen, hinein in die Hellhörigkeit, die „hört“, wo wir hingeführt werden bzw. wohin wir eingeladen werden. Raus aus dem strukturierten Vorgehen, hinein in ein intuitives Geführt Werden.

Wer eine Krise durchsteht, sieht bereits einen Lichtstrahl am Horizont. Oftmals ist das ein Aufbruchsignal, um wieder neue Energie und Bewegungsfreiheit zu erlangen. Dabei kann es helfen, gleichsam einen Blickwinkel aus der eigenen Zukunft einzunehmen und aus der Vision der Überwindung des dunklen Tages auf die momentan schöne Zeit zu schauen. Hoffnung gibt Kraft, tief Luft zu holen, - sich aufzurichten auch. Von der Zukunftsgestalt her gerufen zu werden, führt uns bei jedem Schritt den wir in die eingeladene Richtung gehen, Energie zu.
Mit jedem Atemzug kann der gerade vergangene Augenblick neu anfangen, taufrisch. Wir können Schweres wegatmen, wir können in Schweres hinein atmen, frische Luft dazu lassen und alles zusammen mit dem Atem verabschieden. Der Mensch kann sich in jedem Atemzug mit den universellen Kräften verbinden und das ist wahrlich eine spirituelle Ressource. Ohne Sehnsucht gibt es keinen Aufbruch zu einem spirituell-geistlichen Weg. Der Atem kann uns die Wirklichkeit der universellen Liebe erfahrbar machen und wir können darin die Tür zu Vertrauen und Zuversicht finden.
Was ist nun das Wichtigste für die Entwicklung eines praktisch wirkenden Selbst-bewusstseins?
Es ist die Erweckung, Differenzierung und Artikulierung eines Spürsinns. Dabei handelt es sich um ein feinsinniges Organ, das zuverlässig die Abweichungen von der rechten Innenordnung vernimmt, insbesondere aber für die falsche bzw. richtige Zentrierung des Subjekts empfindsam ist und immer empfindsamer wird. Wir sind also auf die Ausbildung eines Organs zum Spüren der rechten Mitte und dessen, was von ihr abweicht angehalten. Ausdrücken tut sich dieses Organ eben auch über unseren resonanzfähigen und spürfähigen Körper, der uns Signale sendet oder einfach ist, was er ist, in Unordnung, im Lot, in Freude, in vollem Wachbewusstsein oder im sich aufgebenden Fallenlassen.
Der Mensch hat einen zweifachen Auftrag. Einerseits geht es darum, die Welt zu gestalten und gleichzeitig im Werk zu reifen auf dem inneren Weg. Psychotherapie als prozessualer Initialraum verstanden hilft die Tür zum Geheimen hin zu öffnen. Das Wort Tiefe bedeutet etwas anders als Intensität: tief ist immer, was den Menschen in seiner ganzen Person betrifft; je mehr sein ganzes Sein betroffen ist, umso tiefer sind seine Empfindungen. Je oberflächlicher Empfindungen sind, desto mehr ist er nur mit einem Teil seiner Selbst beteiligt. Mit der Tiefe der Erfahrung steht das Sein auf dem Spiel. Es fordert den ganzen Menschen und gibt ihm seine wahre Verantwortlichkeit zurück.
Texte sind oft Schlüssel zum Zugang des Numinosen. Auch unser Körper kann ein solcher Schlüssel sein. Unser Körper verkörpert, was oder wer wir sind. Der Verstand kann nur entziffern, was der Körper längst erfahren hat. Bevor wir begreifen, erfahren und spüren wir.
Durch den Einbezug von Körper und Stimme wird eine physisch-psychische Balance wiederhergestellt, die ganz natürlich ist, weil jeder Mensch sie auf die Welt mitgebracht hat. Das Unbewusste äußert sich über diffuse Gefühle und/oder Körperempfindungen. Es wird z.B. als mulmiges Gefühl im Bauch, als Freude im Herzen, oder als Kloß im Hals wahrgenommen. Das isolierte Nachdenken mit dem Verstand stößt an Grenzen. Sinnhaftigkeit ist etwas ausgesprochen Subjektives und liegt in unserer Persönlichkeit und in unseren Erfahrungen begründet. Unser Körper ist das Gedächtnis unserer Erfahrungen. Das Selbst ist eine Schnittstelle zwischen Körper und Geist. Es benötigt Körpersignale als Wegweiser zur Orientierung in seine unendlichen Weiten und es kann auf Körperprozesse einschließlich der in vielen Körperreaktionen verankerten Emotionen Einfluss nehmen. Selbst und Körper sind miteinander verbunden. Genauso, wie das Selbst die Signale des Körpers zur Orientierung benötigt, kann der Körper wiederum das Selbst aktivieren.

Körperspüren

Das aktiv erweckende Körperspüren ist eine zentrale Qualität, die durch folgende Schritte eingeladen werden kann: Sich Zeit und Raum geben, außerhalb von getakteter und gerichteter Zeit, vielmehr in einem Raum von Eigenrhythmus und Zeitlosigkeit, um wahrzunehmen, wie sich mein Körper von innen her anfühlt, wenn ich quasi sein Pulsieren und Atmen bin. Ich muss dabei nichts tun, außer in wacher Weise da sein und subjektives Spüren zulassen. In einem weiteren Schritt können wir bewusst und kraftvoll tief ein- und ausatmen; um mit dem Einatmen den inneren Körper-Raum noch etwas (aus-) zu weiten. Mit dem Weiten entsteht Spielraum, der uns ermöglicht, verschiedene Seinszustände abspürend zu vergleichen oder noch besser nebeneinander stehen zu lassen und diesen inneren Raum der Möglichkeiten zu spüren und sich in den Ausatem hinein zu entspannen. Durch das kraftvolle Einatmen spüre ich meine eigene Kraft und nehme bewusst wahr, was mich nährt.
Ich kann spüren, wie sich mein Körper von innen her anfühlt und welche inneren Räume sich dabei öffnen, welche Möglichkeits- und Spielräume, welche Weite dabei entstehen kann. Nach jeder Sequenz des übenden Atmens lohnt es sich nachzuspüren, wie sich der Körper nun anfühlt, was sich verändert hat, was sich leichter und entspannter anfühlt, was mich in wache Aufmerksamkeit bringt usw..
Wir lernen begreifen, wie wir mit dem Atem in Fühlbewusstsein und Spürbewusstsein nicht nur zu unserem Körper kommen, sondern auch zu den sich vollziehenden Körperprozessen. Je feiner die Ebenen sind und je tiefer die wache Entspannung sich vollzieht, desto mehr gelingt es uns, in Kontakt mit unserem Wesen zu kommen oder besser gesagt, umso leichter und freier schenkt es sich uns, in dem es sich uns offenbart. Die regelmäßige Praxis des prozessualen und intuitiven Atmens kann unser Körperspürbewusstsein enorm stärken.
Dabei ist einiges zu beachten: Dass man den Körper wirklich von innen her spürt, so als würde man in ihm spazieren gehen und dass man lernt gleichzeitig den eigenen Atem zu spüren, den man in seinem jeweiligen ganz eigenen Rhythmus frei fließen lässt, so dass Atem, Aufmerksamkeit und Spürbewusstsein sich verbinden können.
Körper und Geist stehen in engster Wechselwirkung miteinander. Dabei können wir unseren Körper als Spiegel und Seismograf für unsere seelischen Prozesse verstehen. Darüber hinaus können wir den Körper im wahrsten Sinne des Wortes als Basis für unseren psycho-spirituellen Weg mit seinen Prozessen der Ent-Identifikation, Auflösung und Zentrierung begreifen. Schließlich können wir uns im Praktizieren der wachen Aufmerksamkeit und der gegenwärtigen Präsenz voll und ganz in ihm niederlassen und über das ganzheitliche Körperspürbewusstsein in Kontakt kommen mit dem umfassenden, reinen Gewahrsein, das alles Existierende durchdringt und doch unabhängig von ihm ist.

7. Februar 2022 / Joachim Armbrust


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