Bedeutung von Psychotherapie aus der Perspektive der urmenschlichen Sehnsucht nach Verbundenheit, als grundlegender Aspekt von Heilung

Aus meiner bisherigen, beruflich-menschlichen Erfahrung heraus, möchte ich gerne feststellen: Es gibt im Menschen eine ganz ursprüngliche Sehnsucht nach Verbundenheit. Immer wieder wird mir offenbar, dass Verbundenheit und Verbundensein, etwas existentiell Menschliches ist.
Das Bedürfnis nach Verbundenheit, - ich wage zu behaupten, dass es in jedem von uns existiert, - ist zugleich eine Sehnsucht nach Ganzheit und Heilsein. Dazu gehört für mich, sich in lebendiger Weise verbunden zu erleben mit seinem Körper, aber auch mit seinen Gefühlen, mit seinen Stimmungen und Befindlichkeiten, auch mit dem was wir denken, mit dem, was über uns hinausreicht, was „größer“ ist wie wir.
Mit sich selbst verbunden sein, heißt auch, sich anzunehmen mit schlechten Gefühlen, mit Befürchtungen, mit Ängsten, mit gefühlter Hoffnungslosigkeit, ja auch mit dem eigenen Kranksein.

Es geht darum, nichts auszugrenzen von dem, was in uns ist, ja, von dem, was wir sind. Sondern uns in Liebe zu umfangen.
Alles, was uns ausmacht und was darüber hinausreicht, in unser Herz zu nehmen, es liebend da sein zu lassen und ihm zu folgen. Darauf zu vertrauen, dass das, was in uns ist, richtig ist und dass es in der Lage ist, uns unseren Weg zu zeigen, wenn wir darauf bauen. Das heißt nichts anderes, als uns den in uns liegenden Lebensbewegungen anzuvertrauen, uns ihnen zu überlassen.

In dieser tiefen Art der Verbundenheit, die wirklich existenziell und tief ist, liegt die Kraft, die uns heilen kann. Sie fordert uns auch zu der Frage auf, was brauche ich, um wieder gesund zu werden?
Ich kann dich in meiner Begleitung auf diese Frage stoßen, dich einladen, sich ihr zuzuwenden, aber was genau du brauchst, um wieder gesund zu werden, dich besser zu fühlen, um wieder heil und ganz zu werden, kannst nur du wissen. Denn nur du selbst stehst mit dem tieferen Sinn hinter allem, was dir geschieht, in Verbindung.

Natürlich brauchen wir eine Medizin, die für einen kranken Menschen eine gängige Maßnahme findet, die ihm helfen könnte. Das kann je nachdem eine Operation, eine medikamentöse Therapie, eine physikalische Therapie oder auch anderes bedeuten. Wir brauchen diese Therapieverfahren – sie gehören ins Zentrum unseres Selbstverständnisses im Zusammenhang mit Medizin.

Nur, wenn das alles wäre, was wir jemandem in seinem Kranksein anbieten, übersehen wir möglicherweise etwas, das für den Betroffenen genauso wichtig ist, und verpassen eine weitere Möglichkeit der Hilfe. Denn jemand, der krank ist, braucht mehr als nur medizinische Behandlung.
Er braucht zum Beispiel, dass wir ihm liebevoll, mitfühlend und mit
Respekt begegnen. Er braucht, dass wir ihn als Menschen sehen,
nicht nur als Krankheit, und ihn, wie er ist, als Menschen annehmen
können.
Jeder Mensch, der zu mir kommt, braucht auch mein wirkliches Da-Sein für ihn – auch das gehört für mich zur gesunden Professionalität.
Und ich meine tatsächlich Da-Sein.
Wir müssen nicht immer gleich etwas tun. Jemanden einfach nur bei der Hand nehmen und Da-sein. Viele medizinische Maßnahmen würden sich möglicherweise erübrigen, wenn wir uns mehr Zeit nähmen, um da zu sein. Dieses Da-Sein betrifft alle Ebenen. Wir sind da für die körperlichen Belange des kranken Menschen, wir sind aber auch da für seine psychischen Belange. Wir sind da für das, was ihm Gedanken macht und welche Überzeugungen ihn in Bezug auf sein Kranksein plagen. Das ist sogar sehr wichtig, was der Mensch denkt, denn das bestimmt sehr viel von dem, was geschieht.
Wenn ein Mensch in der Vorstellung lebt „Ich bin so sehr schwer krank, chronisch krank, da komme ich nie wieder raus“, dann bahnt das bereits etwas an, das auch tatsächlich Realität werden kann.
Der Umkehrschluss gilt allerdings nicht eins zu eins. Wir können uns leider nicht einfach so gesund denken.
Beim Gesundwerden spielen ganz tiefe Schichten, die uns oft nicht zugänglich sind, eine gewichtige Rolle.

Aber allein schon die innere Haltung, zu denken, dass wir wieder gesund werden können, lädt bereits zu einem Heilungsprozess ein. Sie stellt Weichen, hilfreiche Schritte zu unternehmen, Stück für Stück mit der Krankheit umgehen zu lernen, sie vielleicht verwandeln zu können oder mit ihr leben zu lernen.
Auch das ist aus meiner Sicht eine zentrale Aufgabe im Heilberuf: Menschen darin zu begleiten, auch mit einer Krankheit, wenn sie sich nicht heilen lässt, leben zu können – und das sinnerfüllt.
Eine Begleitung, die auf Verbundenheit setzt, braucht einen freien, offenen spirituellen Raum: Wir begleiten die erkrankten Menschen auf allen Ebenen – körperlich, emotional, mental und spirituell.
Spiritualität beinhaltet die essenziellste Form von Verbundenheit, denn sie meint immer das, womit wir uns existenziell über uns als Person hinaus verbunden fühlen. Diese Art der transzendenten Verbundenheit muss für jeden ganz offen sein. Denn das muss nicht religiöse Gläubigkeit bedeuten. Auch ein Atheist kann in sich eine tiefe Überzeugung vom Sinn seines Lebens tragen. Die Offenheit des spirituellen Raums ist also zentral. Denn die Menschen, die zu uns kommen und Hilfe suchen, kommen in einer ganzheitlichen Begleitung unweigerlich an ihre essenziellen Fragen und Grenzen, die, wenn sie berührt werden, oft schon heilsam wirken können. Der Schlüssel, der ihnen den Zugang zu diesen essentiellen Fragen und Grenzen eröffnet, ist nur allzu oft durch Schmerzen, durch lange Erkrankung, durch Behinderung oder im vermeintlich oder real eingeleiteten Sterbeprozess zu finden. Wo auch immer wir in einer Lebenskrise sind, berühren wir die Fragen unserer Existenz und damit auch den spirituellen Raum.
Für mich ist eine Psychotherapie der Verbundenheit eine Therapie, die diesen Raum miteinschließt.
Der offene spirituelle Raum muss eine Einladung an alle Menschen
sein: Der eigene spirituelle Hintergrund, die eigene Idee
vom Leben und seiner Quelle, der eigene innere Ort, wo sich
jemand Zuhause und verbunden fühlt, braucht seinen Platz in
der Begegnung zwischen Hilfe suchendem Menschen und Therapeut/in.
Es braucht einen offenen Raum, um den Menschen, die wir begleiten, Angebote der Steuerungshilfe in ihren Raum hinein zu verschenken und mit ihnen gemeinsam nach Antworten auf die für sie wichtigen Lebensfragen zu entwickeln.
Wir können niemandem sagen: Das ist richtig, da geht es lang. Wir können immer nur Fragen: Wie siehst Du es? Wie erlebst Du es? Wie ist es für Dich? … Dann geschieht etwas.
Da sein können – ein fundamentales Ja zu dem, was ist, einnehmen, das ist die zentrale und heilende Aufgabe!
Die Haltung, die darin liegt, ist eine Haltung des Mich-Zuwenden-
Könnens. Wir können das auch als Herzqualität bezeichnen.
Diese Qualität, sich allen Belangen den Uns-Anvertrauten zuwenden
zu können, all dem, was ihnen für ihre Heilung wichtig ist – ob das eine schwere, somatische Krankheit, eine psychische
Krankheit oder eine spirituelle Krise ist, was auch immer – meint
eben ein bedingungsloses Da-Sein für den Anderen.
„Ich wende mich dir zu, ich bin da.“
Dieses Da-Sein und Dabei-Bleiben ist in sich eine liebende Haltung. Byron Katie spricht von „Lieben, was ist“ (Katie 2012).
Können wir ganz da sein, bezeugen wir, was ist. Den Schmerz, das Leiden. „Ich bin nicht mehr allein damit.“ Das ist so wohltuend und bereits ein erster Schritt im Heilungsprozess.
Das ist ein fundamentales Ja. Ich sage „ja“ zu Dir. Und das ganz
und bedingungslos. Und ich meine mit diesem Ja Dich in Deinem
tiefsten Wesen. Wir müssen nicht Ja zu jeder Ecke und Kante
sagen, die jemand hat. Die darf jeder haben, - wir sind so.
Das Menschliche ist menschlich. Aber ich sage Ja zur Dir als menschliches Wesen. Und ich sage Ja zu dem, was gerade mit Dir ist. Ich kann Ja sagen zu Deiner Verzweiflung und Deinem Leiden. Ich kann das sehen. Das ist so. Ja. Und ich kann das, weil ich mich mit meinem eigenen Schmerz, mit meiner eigenen Unzulänglichkeit, mit meinen eigenen Themen auseinandergesetzt habe. Das hilft mir, auch Dich darin anzuschauen und zu erkennen.
Ich muss mich nicht mehr abwenden von Deinem Leid, denn ich kann ihm standhalten, es einen Moment für dich, aber vor allen Dingen mit dir zusammen tragen.
Was keinesfalls heißt, es für den Anderen zu übernehmen!
Was sich verheerend auf unsere Klienten auswirkt, ist, wenn
wir ihr Leid nicht aushalten können und uns abwenden. Denn damit
lassen wir sie in ihrer höchsten Not allein. Wenn wir gelernt
haben, auch mit den existenziellen Themen umzugehen, können
wir einfach da sein und müssen uns nicht mehr abwenden, weil es
uns überfordert. Wir brauchen also auch eine Entwicklungsmöglichkeit
für uns selbst im Heilberuf, um einen guten Umgang mit diesen Dingen lernen zu können.
Am Boden des fundamentalen „Ja, ich bleibe da, was auch immer gerade ist“ wohnt die Liebe.

Autor / Copyright  Joachim Armbrust

28. Mai 2022 / Joachim Armbrust / Aktuelles / Einblicke