Psychotherapie und Spiritualität
Autor: Joachim Armbrust
Wir leben in einem säkularen Zeitalter. Werte und Leitbilder werden heute im öffentlichen Raum primär rational und ökonomisch begründet.
Eine religiöse Grundhaltung oder die aus dem eigenen Inneren aufsteigende Spiritualität können allerdings zwei elementare menschliche Bedürfnisse befriedigen, auf die eine säkulare Gesellschaft keine Antwort weiß:
Wie können wir trotz unserer tief verwurzelten egoistischen und gewalttätigen Impulse harmonisch in Gemeinschaften und herzverbunden zusammen leben? Und wie können wir unserer Endlichkeit, dem ungerechten Leiden und dem Schmerz standhalten, ohne zu verzweifeln?
Für eine größer werdende Gruppe von Menschen werden religiöse oder spirituelle Sinndeutungen - oftmals nicht konfessionell gebunden - gerade heute in allen Lebensbereichen immer relevanter. Dieser Anteil ist in den letzten Jahren angestiegen und wird noch weiter wachsen.
In Bezug auf psychologische Beratung und Therapie sind unterschiedliche Auffassungen bedeutsam. Je nach Rollenverständnis arbeitet die gleiche Berufsgruppe– trotz mancher Gemeinsamkeiten – in ganz verschiedenen Kontexten, weil sich ihre Voraussetzungen, Bedingungen und Absichten in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Als „Sinnkonstruktivismus“ bezeichnen sie die Strategie von säkularen Menschen, die sich keiner höheren Macht verpflichtet fühlen. Angesichts des Tragischen und Absurden im Leben seien sie vor die Notwendigkeit gestellt, in existenziellen Krisen selber einen persönlichen Sinn zu entwickeln, d. h. zu konstruieren. Als „Sinnobjektivismus“ bezeichnen sie die Strategie von religiösen Menschen, die sich einer „höheren Macht“ verpflichtet fühlen, also „religiös bzw. spirituell“ sind. Diese Menschen verfügen in der Regel über einen persönlichen Interpretationsrahmen bzw. entsprechende spirituelle Tiefenerfahrungen die die existenzielle Krisenbewältigung erleichtern.
Psychotherapeuten/innen, die Menschen in Sinnkrisen helfen möchten, benötigen im Hinblick auf das benannte Thema besondere Qualitäten:
„Reflektierte Zurückhaltung“: Der Therapeut muss seine eigenen Werte und weltanschaulichen Perspektiven so gut kennen, dass diese ihm bei der Begegnung mit einem von ihm begleiteten Menschen nicht (mehr oder weniger subtil) in die Quere kommen. Der Therapeut sollte dabei aktiv hilfreich sein, den Klienten bei seiner Suche nach einem sinnstiftenden und lebbaren Weltbild im Allgemeinen und tragfähigen Werten im Besonderen zu unterstützen.
Viele Menschen sind auf der Suche nach einem „ultimativen Retter“ – einer Instanz, die „höher“ oder „weiser“ ist als sie selbst, um Geborgenheit und Schutz bei ihm/ihr zu finden. Hier ist es wichtig, offen und fest zur eigenen Begrenztheit zu stehen und keine Illusionen zu wecken. So kann dem ratsuchenden Menschen verdeutlicht werden, was ihn beim Therapeuten erwartet – nämlich ein tabu- und Doktrin- freier „Forschungsraum“ zur inneren Auseinandersetzung mit der Sinnfrage. Ausgehend von dieser Grundhaltung kann die eigentliche Arbeit beginnen: „Welche Weltanschauung hat der begleitete Mensch? Ist er gläubig/religiös/spirituell oder nicht? Schöpft er aus eigener, erlebter Glaubenserfahrung? Gibt es Tätigkeiten, Erlebnisse oder irgendetwas anderes, das von sich aus von ihm als wertvoll oder sinnvoll erlebt wird?“ Um die Bewältigung von Sinnkrisen, besser unterstützen zu können, braucht es eines Dritten, was sich aus der Begegnung heraus eröffnet und leuchtend den Weg zeigt. Die Postmoderne ist geprägt von einer Vielfalt an unterschiedlichen Lebensentwürfen und konkurrierenden Sinndeutungen, die auch für Psychotherapeuten neue Herausforderungen birgt. Wie gehe ich mit fremden Glaubensüberzeugungen um? Woran erkenne ich, ob sie eher heilsam-stabilisierend oder krank-machend-destruktiv sind? Kann ich das überhaupt so einfach erkennen?
Im Fokus meiner Praxis steht die psychotherapeutische Begleitung von Menschen in Krisen, mit Depressionen, mit Angst-und Persönlichkeitsstörungen, mit Stresserkrankungen, bei emotionaler Instabilität, Selbstwertthemen, Sinnfragen und Grenzerfahrungen. In meinem Sinne bedeutet Spiritualität hierbei in der Therapie und Beratung ein übergeordneter, positiver, integrativer und dogmenfreier Prozess aus Denken, Fühlen und Sein mit dem Ziel, dem Sein in uns selbst näherzukommen, das er/sie, neben der persönlichen Ebene, in der Tiefe erfährt.
Mein Ziel ist es, den Menschen in seiner Gesamtheit einschließlich seiner spirituellen Dimension zu begreifen und zu begleiten, um ihm/ihr dabei zu helfen, unser wahres Menschsein in allen Dimensionen für unser individuelles Leben zu erschließen.
Im Fokus einer alltagsrelevanten, erfahrungsbasierten Spiritualität steht kein Glaubenssystem, sondern vielmehr eine in jedem Mensch angelegte Erfahrungs-und Bewusstseinsmöglichkeit. Dabei muss betont werden, dass das Ziel der Spiritualität innerhalb des therapeutischen oder beratenden Rahmens nicht identisch ist mit der, in der Spiritualität vorrangig angestrebten Auflösung der Ich-Persönlichkeit im Sinne eines sogenannten „Erwachens“, sondern in einer positiven Ich-Stabilisierung und Flexibilisierung der Ich-Persönlichkeit durch die erfahrbare Seinsebene liegt.
Diese Seinsebene wird im Menschen als still, friedlich, liebend, mitfühlend, frei, freudvoll, sinnhaft, angstfrei und oftmals als lichtvoll wahrgenommen. Wann immer der Mensch diese Ebene betritt, fühlt er sich angenommen, lebendig und kohärent. Er erhält Inspiration und Energie, sich dem Alltag mit seinen Problemen zu stellen.
Diese Ebene stellt die innere Grundlage dar, für seelisch wirksame Tugenden wie Dankbarkeit, Verbundenheit, Weisheit, Mitgefühl, Empathie, Güte, Hingabe, Demut, Selbstwirksamkeit, Großzügigkeit, Wertschätzung, Vergebung und Friedfertigkeit. Spiritualität beschreibt somit eine individuelle Erfahrung, die jedoch zu einer objektiven Verhaltensänderung und sogar zu einer positiv veränderten Biologie des Menschen führen kann.
In der Spiritualität macht der Mensch die Erfahrung, dass er weit mehr ist als seine biologische und kognitive Existenz. In dieser Erfahrung kann er sich zutiefst verankern und Mut, Hoffnung und Kraft zur Lösung seiner Probleme, oder besser, seiner Aufgaben finden. In dieser Erfahrung erfährt sich der Mensch über seine individuell konditionierte Persönlichkeit hinaus und kann sich als ein Teil eines umfassenden geistigen Feldes wahrnehmen und im besten Falle Lösungen in erweiterten Bewusstseinsebenen finden. Es ist ebenso die Erfahrung von Klarheit, Weisheit und einer bedingungslosen Liebe, die ihm zuteilwerden kann.
Spiritualität in diesem Sinn ist somit unter anderem die Fähigkeit eine größere umfassendere Perspektive als die der geläufigen Persönlichkeit einzunehmen und somit das Wahrnehmungsfeld des Ich-Bewusstseins zu erweitern. Erfahrbar wird Spiritualität als Verbundenheit mit sich selbst, mit der sozialen Umwelt, mit dem Ganzen und darüber hinaus als grenzenlose Liebe. Spiritualität entsteht im Gewahrwerden des Augenblicks und führt zu vermehrter Intuition, gesteigerter Kreativität, erhöhter Achtsamkeit, sowie in eine Offenheit und in ein Vertrauen dem Leben und allem Lebendigen gegenüber.
Meine Arbeit basiert auf der Grundannahme, dass der versperrte Zugang zu diesem ureigenen Sein eine der Hauptursachen für psychisches Leiden und Konflikte darstellt und deshalb handelt es sich um einen Ansatz, der davon ausgeht, dass wer diesen Zugang nicht parallel zum therapeutischen Prozess im Fokus hat, die individuellen Probleme nicht nachhaltig lösen kann. Aufgrund schmerzhafter Erfahrungen in der Vergangenheit, aber auch aus Unkenntnis der tieferen Wirklichkeit, wird das ursprüngliche Sein von begrenzenden Gedanken, Handlungen und Gefühlen überlagert und in seinem freien Ausdruck gehemmt. Der Zugang zum ursprünglichen Sein als Quelle für Entwicklung, Weisheit und letztlich Heilung bleibt weitgehend versperrt, und die Persönlichkeit muss im begrenzten Rahmen nach Lösungen suchen. Der konfliktbehafteten Persönlichkeit mit ihren destruktiven Gedanken-, Handlungs-und Gefühlsfeldern zu helfen, die Persönlichkeit in einem stimmigen Kontext zu stabilisieren, ist eine der Hauptaufgaben der Psychotherapie. Hierbei besteht das Ziel darin, dass der Klient ein Bewusstsein für und einen Zugang zu seinen begrenzenden Impulsen entwickelt und neue Handlungsoptionen erprobt. Eine der stärksten und häufigsten Ängste im Menschen, neben der Angst vor dem Tod, ist die Angst, nicht liebenswert. nicht gut genug zu sein und infolgedessen Verlust, Bestrafung oder Trennung zu erfahren.
In dem Versuch eine Lösung zu finden, wird oftmals die Quelle des Seins übersehen. Blind für sein eigenes inneres Wesen, kreist der Mensch verzweifelt um sich selbst und verliert gerade dadurch sich selbst und die Offenheit für die Seinsebene, die Linderung und Heilung schenken kann. In der Erfahrung der Spiritualität, dass Liebe die wahre Natur des eigenen Seins und der Welt ist, oder wie Teilhard de Chardin, der Jesuit und Wissenschaftler, sagte: „Liebe ist die materielle Struktur des Universums“, kann der Mensch, neben den Interventionen der klassischen Psychotherapie, auf Ressourcen innerhalb seines Seins zurückgreifen. Erst durch die tiefere Erfahrung des Angenommen seins und der Liebe ist der Mensch in der Lage sich der ganzen Wahrheit seines eigenen Lebens zu stellen und dem begrenzenden Schatten innerhalb der eigenen Persönlichkeit zu begegnen. In der Erfahrung von Liebe, kann das eigene Leben wahrhafter gewagt werden, ohne die lähmende Angst vor Trennung, Fehlern oder Schuld. Genau hier setzt auf Klienten-Ebene und in der Beratung mein Verständnis von „Spiritualität in der Therapie“ an.
Durch eine Vielzahl von Interventionen und Übungen wird der Mensch in die verschiedenen Bewusstseinsräume geleitet, in denen er selbst unverstellt die verschiedenen Aspekte des Seins explorieren kann. Dabei steht im Fokus von Einzel-und Gruppenprozessen, das Initiieren und Einüben der Erfahrung von Verbundenheit, Liebe, Mitgefühl, Hingabe, Dankbarkeit, Güte, Demut, Großzügigkeit, Vergebung und Friedfertigkeit. Aus diesem inneren Raum können Probleme oft in einem größeren Bezugsrahmen gelöst und innerer Stress reduziert werden.
Der andere entscheidende Aspekt von „Spiritualität in der Therapie“ bezieht sich auf die Ebene des Therapeuten selbst. Je mehr der Therapeut selbst in der Lage ist, heilende innere Räume zu betreten, diese zu modulieren und bei Bedarf zu verstärken, desto mehr kann er diese Räume im Klienten selbst öffnen helfen, bzw. für diesen in seiner Person eine Einladung „aussprechen“.
So wie wir uns neben einer unruhigen Person unruhig fühlen, so können wir uns neben einer friedlichen Person friedvoller fühlen.
Dabei kommt es zu einer Überlagerung von heilsamen Bewusstseinsfeldern, die ermöglichen, das Feld des Klienten zu stabilisieren und ihn zu neuen heilenden Erfahrungen zu befähigen.
Des Weiteren hält der in der Liebe verankerte Therapeut den größeren Bezugsrahmen für den Klienten und reduziert ihn nicht auf sein momentanes persönliches Leid. Allein dieser größere Bezugsrahmen, in dem ein Therapeut tätig ist, erzeugt zutiefst heilende Qualitäten und bietet dem Klienten eine energetische Orientierung. Der Therapeut ist also, neben seiner fachlichen Kompetenz und seinen Interventionen, im Idealfall ein Mensch, der sein Gegenüber so lange im übertragenen Sinne authentisch lieben kann, bis der Klient selbst in der Lage ist, sich an seine eigene Liebe zu erinnern und diese in ihm die Führung übernimmt. Oder anderes gesagt: Den Geist zu dem innersten Selbst hinzuführen, wo Wunder möglich werden und die blockierende Angst nicht überleben kann, ist die Aufgabe eines Therapeuten, der neben seinem Fachwissen auch in spirituellen Bewusstseinsfeldern verankert ist.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Herzens-und Bewusstseinsqualitäten eminent unterschätzte Wirkungsfaktoren in Therapie und Beratung sind. Unser Bewusstseinsfeld, das Feld, in dem der Therapeut oder jeder Einzelne agiert, ist maßgeblich für das innere Empfinden und den Heilvorgang mitverantwortlich und somit zutiefst zukunftsgestaltend.
Nur in der Stille, im Zustand des entspannten Seins, können Sie lernen Ihrer inneren Stimme zu folgen. Erst im Einklang mit einer großen Kraft, die uns alle umgibt, entstehen großartige Veränderungen und Impulse, die dann von der inneren Quelle des Menschen kommen können. Persönliches und universelles Herz werden hier eins. Liebe ist auf diesem Weg das vollkommenste Hilfsmittel, sie ist gelebtes Interesse, Sinn, die stärkste Verteidigung und die einzige Sicherheit. Liebe ist letztendlich die einzige Autorität, der es sich lohnt zu folgen. Liebe ist die Basis, auf der wir alle stehen. Zu dieser Liebe sind wir eingeladen uns wieder hin zu entwickeln. Aus meiner persönlichen Sicht und in meiner Welt gilt immer noch „Das Heilende ist die Liebe von Seele zu Seele, von Mensch zu Mensch.“
In diesem Sinne ist es erforderlich, unser Bewusstsein zu schulen und tiefere Ebenen unseres Menschseins zu erschließen. Es bedarf einer Rückkehr des Menschen zu sich selbst, einer Rückkehr zum Sinn, eine Verbundenheit mit dem Leben. Es bedarf einer alltagstauglichen Seelenkompetenz und Anbindung an die in jedem Menschen angelegte Spiritualität. Verbunden mit dem Wunsch, dem Menschen in der Begegnung das Wissen einer nachhaltigen Seelenkompetenz zu eröffnen, und ihn darin zu unterstützen, seine ganz eigene, persönliche, ganzheitliche, umfassende Persönlichkeits-und Bewusstseinsentwicklung als Aufgabe zu bejahen, und aus einer erweiterten Wahrnehmungskompetenz sowie der Entfaltung von tragfähigen Herzens- und Bewusstseinsqualitäten im Sinne einer erfahrbaren Spiritualität zu schöpfen.
Ich unterstütze Menschen auf Ihrem Weg, in Ihrer Persönlichkeitsentwicklung und eben auch bei der Findung einer alltagstauglichen für sie selbst hilfreichen, selbst entwickelten Spiritualität, sowie bei der Entwicklung von tragenden Herzens-und Bewusstseinsqualitäten. Ich sehe es als meine Aufgabe an, gerade auch non-verbale Energieaspekte und deren Einfluss auf unser Leben zu beleuchten, sowie Menschen bei der Entwicklung von emotionaler und spiritueller Intelligenz zu begleiten. Dabei spielt unter anderem auch die klare und strukturierte Darstellung von neurobiolo-gischen, verhaltenserlernten, energetischen und körperorientierten Zusammen-hängen eine wichtige Rolle für mich. Außerdem sind mir in meiner Arbeit die Verbin-dung von Wissenschaft und Spiritualität, und die Dialektik von Selbstverantwortung und der Erfahrung von Gnade wesentlich. Ich bin der festen Überzeugung: „Wir sind alle dazu bestimmt zu leuchten“, wie es Marianne Williamson einmal sagte. Das Schaubild von Otto Scharmer beschreibt den Prozess in wunderbarer Weise, den wir durchlaufen, um dieses Leuchten aus uns heraus oder gemeinsam in der Gruppe zu erwecken. Der Gang in die Tiefe wird von uns dabei immer auch als Risiko und Abenteuer, ja als Selbstveräußerung erlebt.
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30. Dezember 2021 / Joachim Armbrust / Einblicke